Hotspot: 18,-
Samstag, 1. April 2006
Hotspot: 18,-

So hatte ich mich endlich entschlossen, einen 24h-Account bei T-Mobile zu buchen. Internetrecherche, E-Mails, Euphorika, alles sehr praktisch. 18 Euro, das gebe ich allerdings gerne zu, sind eine Stange Geld. Von 18 Euro hätte man beispielsweise drei Menüs bei Subway erwerben können oder rund 360 Miami-Vice-Kaugummis. Die kosteten seinerzeit 10 Pfennig und man konnte sie im Kleinen Laden kaufen. Der Besitzer – so glaube ich zumindest mich zu erinnern – hieß Jung. Der Kleine Laden war für eine lange Zeit das Ende der mir bekannten Welt. Er lag an der Ecke zu der Hauptstraße, hinter der – so eine landläufige Redensart in der Gegend – Italien anfing. Natürlich nicht sofort, denn schließlich hatten wir sogar ein Feld und zwei Wiesen auf dem Bruch jenseits der Straße – aber am Horizont konnte man schon deutlich die Pinienhaine erkennen. Ich überquerte diese Hauptstraße nur ein einziges Mal ohne Begleitung und das war, als ich auf dem Fahrrad von zwei wild gewordenen jungen Terriern verfolgt wurde. Die Biester waren mindestens 30 Zentimeter hoch und ich wusste, dass sie mich – so sie mich bekämen – mit Haut und Haar zerfleischen würden. Die Hauptstraße war die Grenze zwischen ihrem und meinem Revier. In schönster Landromantik radelte ich vom Bruch nach Hause, wo ich meinem Vater beim Heuen zugeschaut hatte. Es war ein lauer Sommerabend, die Wiesen rochen nach Heu und Hitze und ich war bereits ein Stückchen vorgefahren, um an der Hauptstraße auf den John Deer mit dem Heuwender zu warten. Die Hunde kamen wie aus dem Nichts aus einer Hofeinfahrt geschossen und kläfften wie ein ganzes Rudel Wölfe. Wie an einer Schnur gezogen sauste ich den kleinen Hügel zur Hauptstraße hinauf und fuhr schließlich ohne einen Blick nach rechts oder links über die Hauptstraße. Die Hunde dagegen bremsten abrupt, denn auf der anderen Seite der Straße gab es nur ein wildes Land für sie, unbekannt und unberechenbar. Ich dagegen konnte aufatmen und gönnte mir ein Miami-Vice-Kaugummi. (weiterlesen)

Miami Vice Kaugummis zeichneten sich durch eine geradezu perfekte Konsistenz aus, die genau zwischen Mamba (einen Tick zu Weich) und Maoam (deutlich zu hart) lag. Jedem Miami Vice Kaugummi lag ein Bild von Don Johnson, Philip Michael Thomas oder ihrem Ferrari bei. Diese Bilder bedeckten eine zeitlang zahlreiche Schränke in meinem Zimmer und waren nur äußerst schwer wieder zu entfernen. Doch das eigentlich geniale an Miami Vice Kaugummis war ihr Preis. Zehn Pfennig hatte ich immer irgendwo herumfliegen und mit der Zeit begann ich, mich mit meinen Freunden über Preise von Spielzeug nicht in Geldbeträgen, sondern in der äquivalenten Anzahl von Miami Vice Kaugummis zu unterhalten. Einmal war dies ein praktischer Geheimcode, um sich in Gegenwart von Erwachsenen oder Medchen über die Kosten wichtiger und cooler Dinge zu unterhalten, und außerdem rechneten wir tatsächlich so: Wer 20 Mark zusammensparte, um sich die Kanonenkutsche von Playmobil zu kaufen, müsste auf 200 nicht gekaute Miami Vice Kaugummis verzichten, 200 nicht geklebte Don-Johnson-Bilder und vor allem: Auf die Gelegenheit, zu Herrn Jung in den Kleinen Laden zu gehen, einen Zwannie auf den Tisch zu hauen und zu sagen: „200 Miami Vice Kaugummis bitte.“

Später erweiterten wir unsere Einkaufsliste im Kleinen Laden auf Panini-Fußball-Sammelbilder, mit denen wir akribisch Panini-Fußball-Alben vollklebten und uns freuten, wenn wir eine ganze Bundesliga-Mannschaft vollständig hatten. Auf diese Weise wurde ich übrigens zum lange schwer gebeutelten Borussia Dortmund-Anhänger. Mit dem Kauf einer neuen Packung Panini-Bilder war es mir eines Tages gelungen, drei Mannschaften auf einmal zu vervollständigen: VfB Stuttgart, Eintracht Frankfurt und Borrussia Dortmund. Ich wusste sofort, dass dies ein Wink des Schicksals war. Unschlüssig welcher dieser drei Teams ich auf immer meine uneingeschränkte Zuneigung schenken sollte, befragte ich meinen Onkel, seines Zeichens ein großer Fan aller nur erdenklichen Sport-Übertragungen. Er hörte sich mein Anliegen an und sagte: Dortmund. Jeder vernünftige Mensch auf dieser Welt ist Dortmund-Fan. In meiner Klasse gab es bis dahin nur Bayern-München-Fans. Für besonders vernünftig hielt ich keinen von ihnen. Also wurde ich Fan einer Mannschaft, in der ein glatzköpfiger Mann namens Horst Köppel eine Mannschaft trainierte, denen Spieler wie Rolf Meier, Wolfgang de Beer, Frank Mill und Marcel Raducanu spielten. Doch bis zur Vervollständigung des gesamten Albums musste ich noch viele Miami Vice Kaugummis opfern. Herr Jung war nichts weniger als unser Panini-Dealer, dem einige Wochen lang jeder Pfennig Taschengeld in den Rachen geschmissen wurde. In der Rückschau fällt mir übrigens auf, dass er eine gewisse Ähnlichkeit mit Horst Köppel hatte.

Im Kleinen Laden gab es außer Panini-Sammelbildern und Miami-Vice-Kaugummis noch Wassereis, echte Fußballpokale mit individuellen Gravuren, eine Spielzeugpistole für neun Mark und einen richtigen Erwachsenenroman. Dornenvögel. Von Dornenvögel wusste ich, dass es gerade als Mehrteiler im Fernsehen lief und dass meine Mutter sehr mitgenommen war vom Schicksal einen Priesters namens Richard Chamberlain. Meine Mutter liebte Dornenvögel. Irgendwie liebten alle Dornenvögel, jedenfalls wurde die Titelmusik lange Zeit gespielt, wenn in der ARD die Tafeln mit den Programmhinweisen für den weiteren Tag gesendet wurde. Also beschloss ich, das Buch Dornenvögel zu kaufen, der erste Erwachsenenroman, das ich von meinem eigenen Taschengeld bezahlte. Ich legte Herrn Jung einen Zehn-Markt-Schein auf den Tresen und zeigte auf das Buch. Ich bat ihn sogar, es in Geschenkpaper einzupacken. Überraschenderweise hatte er tatsächlich welches da. Ganz hässliches Stoffpapier mit einem braun-gelben Blumenmuster. Aber es war das erste Geschenk meines Lebens, das ich ganz alleine von meinem eigenen Geld aus eigenem Antrieb kaufte, und darum war ich sehr glücklich. Von den 1 DM Wechselgeld, die ich herausbekam, kaufte ich zur Feier des Tages zehn Miami Vice Kaugummis. Als meine Mutter das Geschenk zu ihrem Geburtstag öffnete, tat sie ihr Allerbestes, sich sehr doll zu freuen und wurde nicht müde, das Buch allen Verwandten und Freunden zu zeigen.

Derart gefestigt in meiner neuen selbständigen Konsumentenpersönlichkeit ging ich das nächste Projekt an: Den Kauf der Pistole. Es war ein schwarzer, überraschend schwerer Trommelrevolver, der sich genauso anfühlte wie eine richtige Waffe. Die neun Mark sparte ich mir in zwei Monaten zusammen, war aber zunächst ein wenig zaghaft. Meine Eltern verabscheuten Waffen. Niemals hatten sie mir bisher auch nur eine einzige popelige Playmobilpackung gekauft, in der auch nur eine Pistole oder ein Gewehr enthalten war. Der Kauf einer lebensgroßen Waffennachbildung musste auf sie wirken wie ein konterrevolutionärer Akt . Schließlich wagte ich es. Ich ging zu Herrn Jung und verlangte die Waffe gegen Barzahlung. Es gab keine lästigen Nachfragen, keine Belehrung, keine Registriernummer. Stattdessen schenkte er mir einen Ring mit roten Ballerplättchen. Zuhause entschloss ich mich, die offene Konfrontation mit meinen Eltern zu wagen. Allerdings erst später irgendwann, wenn ich größer, älter und stärker war. Also versteckte ich die Waffe neben der Scheune unter einem Stapel roter Ziegel. Beim Abendbrot bemerkte meine Mutter, dass aus ihrem kleinen aufgeschlossenen Jungen ein grüblerischer Einzelgänger geworden war, der ein schreckliches Geheimnis hütete. Sie stellte das frisch geschnittene Graubrot auf den Tisch, sah mir in die Augen und fragte: „Wo hast du die Waffe versteckt?“ In meinem Kopf dröhnte der Subtext ihrer als Frage getarnten Anklage: „Du hast mich betrogen. Du bist nicht mehr mein Sohn. Nach außen hin werden wir weiter so tun als ob, aber das Album mit deinen Kinderbildern kommt aufs Osterfeuer!“ In meiner Scham wagte ich nicht aufzublicken und aß schweigend drei oder vier Brote. Ich aß solange, bis meine Mutter in den Keller ging, um frische Tomaten zu holen. Die nächsten sechs Jahre hatte ich mit Gewichtsproblemen zu kämpfen. Erst durch eine zwei Wochen andauernde Grippe hungerte ich mich im Teenageralter auf Normalmaß zurück. Die Pistole verschwand ein paar Tage später im Mülleimer. Ich beschloss, dass ein intaktes Verhältnis zu meinen Mitbewohnern wichtiger war als der Trommelrevolver. Meine Waffen besorgte ich mir in den folgenden Jahren bei Freunden. Dort rezepierte ich auch die notwendige Anzahl Gewaltvideos, die aus dem pazifistischen Weichei, zu dem ich erzogen wurde, das gestörte pazifistische Weichei machte, das ich heute bin. Das Verhältnis zu meiner Mutter hat sich inzwischen wieder normalisiert, den Kleinen Laden habe ich allerdings nie wieder betreten.

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Ich habe einmal fünf Mark in Kaugummis mit abwaschbaren Tatoo-Stickern investiert. Die kosteten nur fünf Pfennig das Stück. Meine Freunde in der Grundschule pilgerten regelmäßig zu dem nahe gelegenen Kiosk, um sich eines oder zwei davon zu kaufen und ganz aufgeregt abzuwarten, ob die Bilder von Dolchen, Totenköpfen, Schlangen oder Totenköpfen mit Dolchen zwischen den Zähnen, die von Schlangen umschlängelt wurden, sauber auf den Arm übertragen werden würden.
Die Kaugummis schmeckten widerlich. Es war diese Art von synthetisch aromatisiertem, bröseligen Hartplastik, das billigen Spielzeugen beigelegt wird, um einen unschlagbaren Kaufanreiz herzustellen.
Heute glaube ich, dass ich die hundert Tatoobildchen eigentlich nur gekauft habe, um zu sehen, was das für einen Effekt erzeugen würde. Die Begeisterung der Schulfreunde, der feierliche Akt des Erwerbs, das Staunen des Kioskbesitzers, der mit seinen vom Alkoholismus zittrigen Fingern gleich einen ganzen Kasten hervorholte und mir überreichte - das alles war viel interessanter als die sich plötzlich eröffnende Möglichkeit, mich vom Haaransatz bis zur Fußsohle mit Spuckebildern von primitiven Männlichkeitssymbolen zu bepflastern. Erfüllt von Euphorie und der Überzeugung, gegenüber meinen Freunden überproportionales Ansehen gewonnen zu haben, ging ich mit meinen Kaugummis nach Hause. Meine Mutter kommentierte meinen Kauf mit den Worten "Du bist ja wohl verrückt" - frei von Wut oder Tadel. Eine nüchterne Feststellung. Meine königliche Freude war natürlich geplatzt. Ich war verletzt. Und ich sah ein, dass sie ganz sicher Recht hatte mit dieser Feststellung.

Ich habe auch einmal Fussballbilder gesammelt. Nicht, weil ich mich jemals mit der Idee des Fussball-Fantums identifizieren konnte, sondern weil es eine soziale Verpflichtung war, sich in diesem Tausch- und Sammelgeschäft zu bewegen, wenn man nicht zu den Kindern gehören wollte, die mit Popeln oder Sand spielen müssen. Da ich für so gut wie nichts Geld ausgab, schleuderte ich es den Panini-Baronen auf der anderen Seite in unverhältnismäßigen Mengen in die Kassen.

Ich hatte noch nie ein Gespür für das richtige Maß, bewege mich zwischen garnichts und zu viel. Verrückte Welt.

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der besitzer des kleinen ladens machte es im zuge der aufkommenden wirtschaftsrezession in den 90er jahren dann wie viele, konsolidierung stand an, reduktion auf's kerngeschäft. beim ihm bestand das vor allen dingen in stempeln, gravuren und pokalen. vielleicht hatte er aber auch einfach nur keine lust mehr den ganzen tag im laden zu stehen. auf jeden fall richtete er sich ein home-office ein und verkauft seither von dort aus an bündes sportvereine und die unternehmerschaft. yps-hefte, brausepulver, flutsch-finger, panini-bilder und gelegentlich der verkauf einer "bunten" wurden den filialen der großen np-, extra- und jibi-konzerne überlassen, wo sie wahrscheinlich kaum zu einer nennenswerten steigerung des umsatzes beigetragen haben dürften. heute befindet sich in dem kleinen laden eine fahrschule, was den x-ten (wahrscheinlich zum scheitern verurteilten) versuch darstellt, in der post-"kleine laden"-phase in dieser lage ein geschäft zu eröffnen. herr jung wohnt ganz in der nähe, ich grüße ihn und er grüßt mich immer sehr freundlich, wenn er mit dem auto vorbeifährt.

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interessant daran ist, dass ich mir nie hätte träumen lassen, dass menschen die herr jung auch irgendwo wohnen können und ein privatleben haben. für mich war er immer nur der stereotyp eines ladenbesitzers, nicht eigentlich ein mensch, eher das passende interieur für ein geschäftmodell aus den 60ern. und das ist ganz schön fies.

note to self: sich mehr für andere menschen interessieren. abends weniger pizza.

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Uuuuund... noch'n Podcast hier: https://im-moor.net
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