Mittwoch, 9. Mai 2007
Zufall, Schicksal oder Gott
Kailoi
23:47Uhr | tag: Die grossen Fragen der Menschheit
Beobachtung, Alltag: In der Straßenbahn sitzt ein junger Mann. Er verzehrt im Zeitraum, der zwischen zwei Haltestellen verstreicht ein Brötchen mit einer riesenhaften Bulette darin. Er wirkt hektisch, scheint besorgt um sein äußeres Erscheinungsbild. Immer wieder springt er auf, um sich von herunterfallenden Krautsalatfetzen und Salatstückchen zu befreien. Er trägt eine Vielzahl von Platiktüten bei sich, die anscheinend leer sind. Dienten sie zum Transport seines Bulettenbrötchens? Oder plant er, in der Universität - denn an dieser Haltestelle wird er aussteigen - Pfandpflaschen und Kafffeetassen zu sammeln, um seine magere Arbeitslosenunterstützung aufzubessern? Man wird es nicht erfahren. Das einzige, was unvermeidlich erscheint ist, dass er beim flüchtigen Biss in seinen Mittagsimbiss einen ordenlichen Schwall Remouladensoße auf seiner Jeanshose platzieren wird, der auch nach unruhigem Wischen mit der vorhandenen Serviette dennoch Spuren hinterlassen wird. Nach seiner Mahlzeit wechselt er den Sitzplatz. Wohl, um sich von den verräterischen Nahrungsresten am Fahrzeugboden zu distanzieren, sowie von der Peinlichkeit des Aktes seiner Nahrungsaufnahme. An der Haltestelle der Universität sitzt ein stark übergewichtiges Mädchen. Dem schadenfrohen Beobachter bietet sie den Übergang zwischen kalorienreichen, belegten Broten zu deren Konsequenz. Sie telefoniert mit einem Mobiltelefon und sieht dabei nicht glücklich aus. Aber dicke Menschen, so denkt man, können auch nicht glücklich sein. Höchstens durch bedingungslose Treuherzigkeit oder ein komödiantisches Talent mag es ihnen gelingen, Freunde zu finden, die über die Unförmigkeit ihrer Erscheinung hinwegzusehen vermögen. Vermutlich telefoniert sie mit ihrer gutaussehenden Freundin und hört sich deren Beziehungsprobleme an. Sie weiß Rat, denn in Beziehungsdingen weiß man nur Rat, wenn man selbst frei davon ist. Was bestimmt uns Menschen, denke ich schwer und zufrieden, was ist das Ziel, der Sinn? Keine neue Frage, die durch Originalität oder Neuigkeitswert zu glänzen vermag. Und doch bleibt sie stets aktuell, die Antworten scheinen in stetigem Fluss zu schweben.... Die klassiche Antwort ist, dass Gott einen Plan für uns hat, eine Aufgabe, manche nennen es eine Prüfung. Im modernen Sprachgebrauch würde man das "Outsourcing" nennen. Einen Teil der Arbeit an jemanden oder etwas anderes übergeben. In diesem Fall an eine höhere Macht, die schon weiß, was das Ganze soll und wo es hinführt. Über Gott als Erklärungsansatz für das eigene Handeln kann man sich streiten. In manchen Fällen trägt es bizarre Früchte: In der humoristischen Variante mag Gott einem Postboten zuflüstern, eine Kirche aus nicht mehr zustellbaren Eilsendungen zu errichten, in der bitterbösen einem ungeliebten Menschen befehlen, in ein Schnellrestaurant zu gehen und so viele Sünder zu töten, wie es eben geht. Fakt ist, dass Gott den verzweifelten Individuen, die keine sinnvollen Antworten von ihrem sozialen Umfeld erhalten eine Möglichkeit bietet weiterzumachen, sich nicht einfach hinzusetzen und in der Ausweglosigkeit zu verharren. Dafür respektiere ich Gott als Sinngeber, als Entität ungemein. Schicksal als Begriff trägt meiner Meinung nach etwas wehleidiges in sich. Schicksal ist ein fatalistischer Begriff, der beinhaltet, dass egal, was man versucht um das eine zu vermeiden oder etwas anderes zu erreichen, es einen vorbestimmten Pfad gibt, der gleich einem Film abläuft. Das Schicksal kann, muss aber nicht von einer höheren Macht (s.o.) verordnet worden sein. Anhänger des Schicksalglaubens legen im allgemeinen eine ungeheure Gelassenheit an den Tag, denn sie wissen ja, dass alles so passiert, wie es eben passieren muss. Die Chinesen sagen im schlechten Fall "es gibt keine Hilfe", der Amerikaner sagt "shit happens", der Deutsche "Kammanixmachen" oder "Watmut, datmut". In Ausnahmefällen fühlt man sich vom Schicksal verfolgt, bedroht, fragt sich, welch böse Ereignisse auf einem unsichtbaren Ablaufplan auf einen lauern mögen, nachdem so viele schlechte Ereignisse bereits geschehen sind. In solchen Fällen hilft nur Klagen oder ängstliches Erstarren, nur hilft es meistens nicht. Letzter Erklärungsansatz für die Zukunft des einzelnen und der Allgemeinheit ist der Zufall. Ein wissenschaftlicher Begriff, der eng verknüpft ist mit dem der Wahrscheinlichkeit. Hier gibt es ein "ja" und "nein" mit einem "vielleicht" in der Mitte. Verschiedene Faktoren nehmen Einfluss auf das Ergebnis. Populär ist im Zusammenhang mit der Quantentheorie die Annahme unzähliger Universen, die sich bei jeder Entscheidung aufspalten und so zum Beipiel zu einem Universum führen, in dem Adolf Hitler ein etwas schrulliger Kunstprofessor geworden ist und einem, in dem Gandhi eine Armee blutrünstiger Krieger anführt. Der Zufall ist aufgrund seiner einfachen Grundvoraussetzungen ein leicht zu durchschauender Freund und Gegner. Man kann ihn beeinflussen, indem man sich an entsprechenden Orten aufhält, die richtigen Dinge tut und richtige Zeitpunkte wählt. Und doch behält er die Fäden in der Hand, entscheidet, ob das erwünschte Ereignis eintrifft oder nicht. Der Schriftsteller Paul Auster hat es in einem Interview einmal auf den Punkt gebracht: Zusammen mit ein paar Freunden irrte er während seiner Kindheit durch einen Park. Es gab ein starkes Gewitter und die Kinder kletterten unter einem Zaun hindurch. Der Junge vor ihm wurde getötet, weil in diesem Moment der Blitz in diesen Zaun einschlug. Einen Moment später hätte er es sein können, den unbändige Mengen an Elektrizität durchströmten, um sein Leben zu beenden. Worauf läuft das Ganze hinaus? Auch Menschen, die sich von Weizenkeimen und Vollkornbrot ernähren, können an Krebs sterben. Auch wenn man sich aufmerksam im Strassenverkehr verhält, kann man von einem rasenden Autofahrer in den Tod gerissen werden. Egal, ob man Buddhist, Atheist oder Jude ist, irgendwann ist es zu Ende und kein Mensch weiß, ob dann Nichts folgt oder ein Himmelreich, Beschreibung nach Wahl. Resultiert daraus eine Empfehlung? Jeder soll das tun, was er für richtig hält. Und er soll andere tun lassen, was sie für richtig halten, sofern es nicht andere in ihrem eigenen Tun beschränkt. Keine neue Erkenntnis. Überhaupt keine neuen Erkenntnisse. Aber ich denke, gelegentlich kann man auch anerkannte Einsichten wiederholen, weil es so viele uneinsichtige Menschen gibt. ... Comment
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