Die Antwort
Mittwoch, 27. November 2002
Die Antwort


Von außen betrachtet war er ein ziemlicher Langweiler. Er ging selten aus, und wenn, dann immer ins selbe Kino oder dieselbe Kneipe. Er ging jeden Tag denselben Weg zur Arbeit, besprach abends mit seiner Frau die gleichen Dinge während sie ein immer recht ähnliches Abendbrot vor dem Fernseher aßen. Dort sahen sie meist die Nachrichten und anschließend vielleicht einen Film. In seinem Inneren jedoch brodelte es seit einiger Zeit, wie er seinen Freunden anvertraute. Es waren nicht viele Freunde, mit denen er sich einmal wöchentlich in seiner Stammkneipe traf (sie waren zu viert), aber sie kannten sich schon so lange, dass er sich mit ihnen manchmal verheirateter vorkam, als mit der Frau, die ihm nun schon 15 Jahre lang das Abendbrot machte. Wenn er vom „Brodeln“ sprach, dann klang das für seine Freunde immer etwas merkwürdig. Denn auch sie waren, von außen betrachtet, ziemliche Langweiler. Was es denn heiße, fragten sie ihn. Doch er konnte es ihnen nicht näher erklären. Ob er vielleicht einfach mal raus müsse aus dem grauen Alltag, fragten sie. Ob er vielleicht mal mit seiner Frau eine große Reise machen wolle. In die Karibik oder auf die Malediven. Schließlich hätten sie sich doch noch nie etwas geleistet. Das müsse doch drin sein. Nein, das sei es nicht, antwortete er. Es sei etwas anderes, etwas, das viel tiefer saß als ein Wunsch nach Urlaub es seiner Einschätzung nach tun würde. Und, so fügte er hinzu, er habe Angst davor. Es sei ihm nicht geheuer. Nachdem er bereits einige Wochen immer wieder davon angefangen hatte und den Rest des Abends schweigend auf sein Glas starrte, forderten ihn seine Freunde auf, diesem „Gefühl“, wie sie es nannten, auf den Grund zu gehen. Er solle sich eine Woche Zeit lassen und bei ihrem nächsten Treffen berichten.

Drei Tage lang saß er abends beim Essen und dachte nach. Die Fragen seiner Frau beantwortete er rein reflexartig wie in einer Trance. Da sie immer über ähnliche Dinge sprachen, bemerkte sie nichts. Erst als er am vierten Tag vom Tisch aufstand und ankündigte, er wolle noch einen Spaziergang machen, wurde sie stutzig. Ob alles in Ordnung mit ihm sei? Ja. Ob sie mitkommen solle? Nein, er wäre bald wieder da. Er griff nach seinem Mantel und ging. Tatsächlich war ihm in den vier Tagen seines Grübelns nichts eingefallen, was dieses ständige Gefühl der Unruhe zu bedeuten haben könnte. Sein Kopf war leer, keinen Gedanken konnte er länger als ein paar Sekunden festhalten, dann verschwand er schon wieder in der Leere. Das Brodeln hingegen war in den letzten Tagen immer stärker geworden, es war der einzige rote Faden in der Leere seines Kopfes. Mal war es wie die Stille vor einem großen Gewitter, die hin und wieder durch leise Donner unterbrochen wird. Mal pulsierte es wie ein immer schneller schlagendes, riesiges Herz. Mal zerrte es an seinem Kopf wie eine Sturmböe an einem Fensterladen rüttelt. Eine Welle leichter Verzweiflung stieg in ihm auf. Er würde seinen Freunden nichts zu sagen haben. Er konnte sich keinen Reim auf seinen Zustand machen.

Als er an einem Zigarettenautomaten vorbeikam, beschloss er, eine Packung zu kaufen. Das hatte er noch nie vorher getan. Doch in seinem Portemonnaie fand er nur Scheine, keine Münzen. Unentschlossen stand er vor dem Automaten. Vielleicht war es ja besser so, dachte er. Die Stimme hinter ihm erschreckte ihn. Er hatte vorher niemanden bemerkt. Doch jetzt sah er einen Mann auf dem Bordstein sitzen, der an einer Hecke lehnte und aus einer Flasche trank. Er müsse einfach den Automaten aufbrechen, sagte der Mann. Er hatte eine raue, tiefe Stimme, und sie klang, als mache er sich lustig über ihn. Das könnte er nicht tun, sagte er, das sei illegal. Dann eben nicht, wenn er sich glücklich dabei fühle, entgegnete der Mann und trank wieder aus seiner Flasche. Nein, glücklich fühlte er sich ganz und gar nicht. Das Brodeln war jetzt zu einem richtigen Kessel-Brodeln angewachsen, es war wie eine riesige Menge heißen Wassers, das kurz vor dem Sieden stand. Was er da trinke, fragte er den Mann. Whisky. Ob er einen Schluck bekommen könne. Natürlich, es koste ihn nur eine Zigarette. Er schaute wieder auf den Automaten und sah sich um. Noch während er darüber nachdachte, wie es sei, wenn er den Automaten aufbrechen würde, hatten seine Hände sich längst entschlossen. Seine Augen blickten suchend nach einem geeigneten Werkzeug, sein Arm brach schließlich einen Kantenstein aus der Umrandung eines Vorgartens heraus und seine Hand ließ ihn gegen den Automaten sausen. Es gab einen gewaltigen Lärm, als der Stein das Glas und das Metall der Vorderseite durchschlug. Dutzende von Zigarettenschachteln purzelten ihm entgegen. Camel ohne bitte, sagte der Mann, der nun aufgestanden war und nachdenklich vor ihm stand. Sie sollten sich lieber aus dem Staub machen, sagte er. Er kenne da eine gute Stelle, wo sie ungestört seien. Aus einer Haustür hörte er Stimmen. Was hatte er getan? In seinem Kopf herrschte Chaos. Er sammelte einige Schachteln ein und stopfte sie in seine Manteltasche. Verwirrt und ängstlich rannte er dem erstaunlich schellen Trinker hinterher.

Einige Minuten später machten sie halt. Er keuchte, bekam kaum Luft. Sie waren an einem Gehölz angekommen, an dem er morgens auf dem Weg zur Arbeit immer vorbeikam. Der Trinker klopfte ihm auf die Schulter und setzte sich auf eine Plastiktüte, die er unter eine Tanne gelegt hatte. Ob er nun einen Schluck haben wollte, fragte er ihn. Ja, gerne. Der Whisky schmeckte scharf, aber aromatisch. Kein billiges Zeug. Der Trinker holte ein Feuerzeug aus seiner Tasche, er selbst öffnete eine Schachtel Zigaretten. Beide rauchten. Als der Qualm seine Lunge erreichte, verspürte er den Drang zu husten, doch hielt er den Mund geschlossen und atmete erst einige Sekunden später wieder aus. Ein angenehmes Kribbeln durchströmte seinen Körper, er schwankte leicht und musste sich setzen. Der Trinker sah ihn durchdringend an. Wie er sich fühle, fragte er. Gut. Beide nahmen einen großen Schluck aus der Flasche. Das Brodeln! Es war noch da, aber es hatte sich wieder verändert. Gleichmäßig und ruhig wie er Motor eines LKW pulsierte es in ihm. Was er jetzt tun wolle, fragte ihn der Trinker. Das weiß ich noch nicht, antwortete er. Es gäbe ein paar Leute, denen er diese Antwort ebenfalls schuldig sei. Noch einmal lies er den Rauch der Zigarette durch seine Lunge strömen. Eigentlich, sagte er, bin ich niemandem etwas schuldig. Er lies sich nach hinten fallen, so dass er auf dem Rücken liegend den wolkenverhangenen Himmel sehen konnte. Zwischen den Wolkenfetzen sah er manchmal das Aufblitzen eines Sternes. Er schloss die Augen. In seinem Inneren fühlte er ein ruhiges, gleichmäßiges Pochen. Gleichzeitig spürte er eine seltsam gedämpfte Traurigkeit. Die Antwort würde ein Abschied sein.

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Karassek`s Antwort

Eine Geschichte, die ich absolut super fand und die mich zum Nachdenken angeregt hat. Leider endet solches Nachdenken nur allzu oft in einer Katastrophe. Wer also die Geschichte hinreichend gelesen und auf sich hat wirken lassen, der mag sich diese meine Gedanken, gegossen in eine mehr oder weniger kreative Form, zu Gemüte führen:

Karassek (älterer Mann, leicht untersetzt in Jackett und Jeans; trägt eine Brille mit kleinen Gläsern, spricht sehr ruhig und sachlich, bemüht sich einen neutralen aber hintergründigen Eindruck zu machen, was nicht immer gelingt)
Bei „Der Antwort“ von Albtraumjäger handelt es sich um eine Kurzgeschichte über einen klischeehaft normalen, namenlosen Mann, von dem ausschließlich in der dritten Person der Vergangenheit berichtet wird. Der Leser, die Leserin erfährt an Persönlichem nur von immer gleichen Ritualen, hauptsächlich Arbeit, Frau und Stammtisch. Die Geschichte entwickelt sich am in der Hauptperson immer stärker werdenden mysteriösen „Brodeln“, das nicht zufriedenstellend gedeutet, nicht beantwortet werden kann.
Der Mann, „Er“ entschließt sich einen in seinem Alltag sonst nicht stattfindenden Spaziergang zu unternehmen. Er begegnet einem Trinker, der ihn überredet einen Zigarettenautomaten aufzubrechen, beide flüchten, das „Brodeln“ verändert sich und die Geschichte endet mit einem melancholischen Blick in den Nachthimmel, bei dem der Leser, die Leserin erfährt, dass die Antwort ein Abschied sein wird.
Wenn sie mich fragen, ist „Die Antwort“ der hoffnungsvolle Rohdiamant eines lange herbeigesehnten Nachwuchsautors, an dem sicherlich noch zu feilen sein wird. Aber wie er hier mit den Stimmungen spielt, das geheimnisvolle Brodeln, das so einfach aufgelöst werden kann, die ausschließlich indirekten Dialoge, die durch die überlegene Sicht des Lesers, der Leserin wunderbar verstärkt das Einerlei des Alltags vor Augen führen, all das lässt hoffen.

Reich-Ranicki (alter Mann, Glatze, weißer Haarkranz, auffällig große Nase, erfüllt sonst perfekt das Klischee vom alten Ostpreußen; spricht übertrieben akzentuiert, wodurch man ihn sofort wahrnimmt, rollt dabei das r und lispelt stark)
Dieser Meinung bin ich nicht!
Sicher, sicher es sind Ansätze zu erkennen. Aber diese Klischees! Das Alltagsallerlei, das nur darauf wartet durch eine Eingebung, eine geniale Wendung hervorgerufen durch ein fast King?sches „Brodeln“, durchbrochen zu werden. Grässlich! Eine einfache Geschichte über den zweiten Frühling, über das Ausbrechen über „Jetzt oder nie“. Da haben sich schon ganz andere an diesem Thema versucht und sind fast ausnahmslos gescheitert. Selbst der junge Thomas Mann...

Die Frau – unterbricht (etwas füllige, emanzipierte Intellektuelle, die sich dem nicht unkomplizierten Kleidungsklischee dieser Gesellschaftsschicht aufs Extravaganteste anpasst)
Herr Reich-Ranicki ich muss hier einschreiten. Sie scheinen zu übersehen mit welchen nicht unraffinierten Mitteln hier mit dem Klischee gespielt wird. Beispielsweise die Bilder von den gemeinsamen Abendessen des „Langweiler“-Ehepaares: Die einfache, aber an entscheidender Stelle greifende Schilderung lässt jede Leserin, jeden Leser sein eigenes Bild entwerfen, dass aber zum gleichen Ergebnis führen muss.
Wie sich ein Bogen aus der Platitude, aus dem Einfachen unweigerlich zum Abstrakten spannt...

Quotenintellektuelle – fällt ein (ständig wechselnde Teilnehmer, deren Anwesenheitsberechtigung nur darin besteht, die Runde zum Quartett aufzufüllen; man stelle sich irgendwen vor, Hauptsache mit dem Tatsch des Intellektuellen)
Genau, das Banale, betrachtet aus überlegener, neutraler Position, das aber bereits die Schatten des Unabwendbaren, der surreal genialen Wendung unsichtbar und doch wahrnehmbar in sich trägt. Der Drang, das Verlangen nach etwas, eine heimlich lauter werdende Sehnsucht, die durch die Schilderungen, die bereits im einfach Dinglichen einen poetischen Glanz, bisweilen einen aufblitzenden Humor vergleichbar mit dem eines Lenz oder eines frühen von der Heides, kulminiert in greifbares Geschehen in einem Erguss, von... – ääh ... dem eigentlichen Finden in sich selbst - ...!

Reich-Ranicki
Ich bitte sie, meine Dame! Reden wir hier nicht um den heißen Brei herum! Die Geschichte ist nicht nur schlecht erzählt, sie ist auch schlecht recherchiert. Jeder Leser, der schon mal einen Stein in einen Zigarettenautomat geschmissen hat, weiß, dass da nicht sofort wie von Wunderhand Zigarettenpäckschen herausregnen. Und jeder der schon einmal versucht hat, einen Randstein aus Nachbars Garten zu brechen weiß welch herkulische Kräfte dazu nötig sind. Die Bilder sind sehr direkt...

Karassek
Da muss ich zustimmen, auch ich sehe da sehr wohl konkretere Zugänge. Beschreibt das „Brodeln“ nicht eine tiefe Wahrheit, eine einfache Aussage, die ähnlich wie bei Sartre nur darauf wartet vom Leser, der Leserin erkannt zu werden?

Die Frau
Sie meinen den Tod?! Verkörpert in der plötzlich auftauchenden Figur des Trinkers. Der Tod als sanftes Hinübergleiten mit einem Schluck Whisky und dem angenehmen Kribbeln eines Zigarettenrausches, der als gleichmäßiges Pulsieren eines LKW-Motors gut getroffen wird. Das finale schließen der Augen, der Abschied mit melancholischen Blick auf den Nachthimmel als endgültige Antwort.
Das Brodeln ist die Sehnsucht nach der Erlösung von einem unzureichenden Leben, das zum Folgen des mysteriösen Trinkers einlädt und vorbereitet. Eine Sehnsucht, intensiver als es der Wunsch nach Urlaub sein kann...

Quotenintellektuelle
Sie müssen schon genau hinsehen, Frau Kollegin! Es heißt: „...etwas, das viel tiefer saß als ein Wunsch nach Urlaub es seiner Einschätzung nach tun würde.“
Das ist der Wunsch nach gutem Sex. Kein Zweifel.
Der Antwort ist der Abschied von einem Heimchen von Frau, dass es einfach nicht mehr bringt!

Karassek
Aber, aber, Frau Kollegin! Es geht um etwas ganz anderes. Etwas viel Konkreteres. Das Brodeln ist eine Krankheit: Einen schleichenden Verlust der Pupaldementivflora, peristophobe Gasolitis genannt. Eine Krankheit von der zwar nur etwa einhundert Menschen auf der ganzen Welt betroffen sind, die sich aber in immer schlechterer Verdaulichkeit jeglicher Speise äußert.

Die Frau
Ich bitte Sie! Es geht hier um viel mehr, es geht um eine autobiographische Verarbeitung der Erkenntnis, das sich Zeit durch das Nahen des Todes, das stärker werdende Brodeln äußert und für den Menschen nur so begreifbar wird!

Karassek
Unsinn. Der Zugang über die peristophobe Gasolitis ist viel direkter! Geben Sie zu, dass sie darauf einfach nicht gekommen sind!

Reich-Ranicki
Karassek, dumme Sau! Sie Schlafmütze! Wie soll den nach dieser platten Blödmann-Interpretation der Abschied zu deuten sein, hä?!

Karassek
Herr Reich-Ranicki, ich muss doch sehr bitten! Die Betroffenen leiden unter zunehmender Isolation – DAS ist der Abschied! Weil sie immer mehr brodeln, also blähen – Au! (Reich-Ranicki hat ihm von seinem Sessel aus vor`s Schienbein getreten), werden sie bzw. ihr Gestank für ihr Umfeld unerträglich und sie enden in sozialer Isolation! Das engültige Ende aber wird erst erreicht wenn ein kleiner Funke die ganze braune Wolke zur Explosion bringt.

Reich-Ranicki
Igitt! Das reicht!

Reich-Ranicki steht auf, haut Karassek eine rein und kackt vor ihm auf den Boden

Reich-Ranicki
Hier ist aber Schluss! Das kann ich doch nicht machen!

Schlingensief (führt Regie)
Schnauze! Hier führe ich Regie und du tust was ich sage. Du kackst jetzt vor Karassek auf den Boden und dann wird die Frau von hinten gefickt! Das ist Kunst – MEINE Kunst!

Abbruch der Reihenentwicklung nach dem dritten Glied, da beim gedanklichen Entstehen dieser Szene der Autor in einer Linie 18 nach Brühl sitzt und lachen muss. Für alle anderen Reisenden ohne ersichtlichen Grund. Es folgt das Ringen um Fassung, dann aber immer wieder unterdrücktes Kichern. „Du kackst jetzt vor Karassek auf den Boden!!!“
Zusammenreißen! Der Schlingensiefsche Karassek-kack-Trash ist stärker. Luft hohlen. Ruhig. Denk an was anderes. Plötzlich: Paff! Nein, kein explodierter Zwerg, sondern ein Besoffener der vom Nebensitz auf den Boden gefallen ist und jetzt scheinbar Hilfe braucht. Seine Gegenüber springt auf und flüchtet – Igitt! Ein engagierter Mann tritt dazu, versucht dem schlafenden wieder auf zu helfen, keine Verletzungen – „helfen sie mal“ – na klar. „Solange er nicht kotzt und daran erstickt passiert ihm nichts...“
Aber die Kette ist damit abgebrochen.

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