Donnerstag, 3. April 2003
Rollenspiel
Albtraumjaeger
15:42Uhr | tag: Dunkle Stunden
Ich setze die Brille auf. Die Welt verschwimmt, gerät aus den Fugen. Verschwommene Buchstaben auf den Flaschen und Dosen, deren Umrisse ich undeutlich erkennen kann. Ich konzentriere mich. Es gibt angeblich Menschen, die ihren Herzschlag bewusst kontrollieren können. Ich will wieder kontrolliert sehen. Ich setze die Brille ab. Einiges wird schärfer, einiges bleibt seltsam unbestimmt. Weiße, helle Flecken tanzen vor dem linken Auge. Wieder die Brille. Es geht besser. Im Badezimmerspiegel erkenne ich mein Gesicht ziemlich genau. Weißes Fleckengesicht. >>> Der Zug fährt um 6 Uhr, ich freue mich wie ein kleines Kind. Abschiedskuss, winken, Zigaretten kaufen. Gauloises ohne Filter. Wie ein Mosaik füge ich die Bestandteile meiner neuen Identität zusammen, setze wieder die Brille auf. Die paar Stufen in der dunklen Unterführung sind ein Problem, dreidimensionales Sehen allgemein. Am Gleis bleibe ich stehen, zünde mir eine Zigarette an. Huste. Lache über mich. Wofür das Ganze? Das Raucherabteil ist leer, trotzdem behalte ich die Brille auf. Das Wort Distinktion kenne ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Dabei beschreibt es genau das, was ich mache. Mich unterscheiden. Von anderen, von mir selbst. Ich nehme das Projekt sehr ernst, obwohl es lächerlich ist. Über den ersten Seiten meines Buches schlafe ich ein. Ich habe es mitgenommen, weil sein Titel einiges hermacht, leider ist es todlangweilig. Als der Cateringwagen kommt, nehme ich einen Cafe, schwarz, und rauche, muss wieder husten. Tabak gerät in meinem Mund, es wird mir zu blöd. Ich reiße mir die Brille von den Augen (wird auch nicht viel besser) und drücke die Zigarette aus. Dann schlafe ich wieder ein. Dortmund. Irgendwie hat mit dem Umsteigen alles geklappt, jetzt muss ich kapieren, wie das mit dem S-Bahn-System funktioniert. Ziemlich viele bunte Linien. Ich setze die Brille auf und ab. Wirklich klarer wird mir das System nicht. Ich frage einen Taxifahrer, der mir den Weg erklärt und steige in einen Bus. Nach einer dreiviertel Stunde bin ich da. Mein Mitbewohner ist ein Punk. Er nennt mir seinen Namen und bietet mir ein Bier oder einen Joint an. Vorerst nehme ich das Bier. Ich lerne, dass es ein Oldenburg in Holstein gibt und dass er da seine Zivistelle hat. Ich sage ihm, wer ich bin, wo meine Zivistelle ist und wo ich wohne. Wir gehen runter in den Speisesaal und treffen die anderen. Ein linksautonomer Hooligan aus Bielefeld, ein weiterer (kleiner schmuddeliger) Punk aus Weißgottwoher und ein weiteres Dutzend Flachnasen. Ich beschließe, mich an die Punks und den Hool zu halten. Nach einem unerträglichen Sitzkreis mit zwei vollkommen unerträglichen Sozialpädagogen und einem erträglichen Mittagessen tauschen ein paar von den Flachnasen Pornohefte aus. Mein Mitbewohner und der andere kleine Punk gehen Bier kaufen. Sie versprechen mir, ein paar Dosen für mich mitzubringen. Etwa zwanzig Minuten lege ich mich auf mein Bett und schließe die Augen. Sie schmerzen wegen des ständigen Auf- und Absetzens der Brille. Ich rauche eine Zigarette, huste nicht. Danach schaue ich mich im Gebäude um. Ein Tagungsgebäude für irgendeinen Sozialverband. Unten Speisesaal, Gruppen und Seminarräume, oben Zwei- oder Dreibettzimmer. Im Keller gibt es mehrere Aufenthalts- und „Party“-Räume, Halleluja. Auf dem Weg in die Vorhalle treffe ich eine der beiden Sozialpädagogen. Ihren Namen hab ich nicht behalten, dafür kennt sie meinen. Anscheinend will sie sich dringend unterhalten. Sie schiebt ein paar offizielle Fragen vor und fängt dann an zu plaudern. Ihre Augen sagen „Fick mich!“. Ich gebe vor, dringend einkaufen gehen zu müssen und fliehe ins Erdgeschoss. Die beiden Punks haben das Bier mitgebracht und wir trinken schon mal zwei, bevor die Nachmittagsrunde beginnt. Wir reden über das Altern, den Tod, die Altenpflege. Die beiden Sozialpädagogen kennen ungefähr fünf Millionen Spiele, um uns aus der Reserve zu locken. Mein Mitbewohner entschuldigt sich, zwinkert mir zu und verlässt den Raum. Zwei Minuten später bin ich ebenfalls weg. Er sitzt in unserem Zimmer und baut einen Joint. „Na, auch kein Bock mehr?“ Ob ich mitrauchen will, ja, wir rauchen, gehen wieder runter. Der Nachmittag vergeht ziemlich schnell. Abends sitzen wir in einem Zimmer mit Kamin, schmeißen riesige Holzscheite ins Feuer und unterhalten uns über Musik. Besser, sie unterhalten sich über Musik, ich kenne keine einzige der Bands, von denen sie schwärmen. Ich trinke fünf Dosen Bier und rauche mehrere Joints mit, sitze in der Runde und nicke wissend. Vor meinen Augen verschwimmt langsam alles. Habe ich die Brille auf? Ja, aber ohne wird’s nicht besser. Ich verabschiede mich, gehe ins Bett. Vor dem Badezimmerspiegel setze ich meine Brille auf und ab. Ich putze meine Zähne und rauche danach eine Zigarette. Der Gedanke, dass ich noch fast zwei Wochen vor mir habe, ist nicht gerade angenehm. Ich packe die Brille in ihr Etui zurück und verstaue sie in meinem Kulturbeutel. Ich putze meine Zähne ein zweites Mal. Als ich ins Zimmer zurückkomme, sitzt mein Mitbewohner bereits in seinem Bett und raucht einen letzten Joint. Ich öffne das Fenster und lege mich hin. Meine Zigaretten sind alle, ich kaufe keine neuen mehr. ... Comment
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