Montag, 2. Juni 2003
Unfälle
Albtraumjaeger
11:47Uhr | tag: spotlights
Er erzählte von einem Autounfall, in den er vor einigen Jahren verwickelt war. Dabei lag der linke Arm gänzlich leblos auf dem Tisch, während er mit dem rechten Arm stereotype Gesten vollführte. Entweder beschrieb er einen weiten Bogen von der unteren Körpermitte bis der Arm fast vollständig ausgestreckt in die Luft zeigte, oder er hielt die rechte Hand ruhig vor dem Gesicht – den ohnehin hinter dem dicken Vollbart kaum sichtbaren sich öffnenden und schließenden Mund fast vollständig überdeckend – und bewegte den Zeigefinger tadelnd wie ein alter Schulmeister hin und her. Beide Gesten wechselten sich mehr oder weniger regelmäßig ab, um seine Erzählung eindrucksvoll (so wohl die Absicht) zu illustrieren. [...Fortsetzung] Ihm sei auf abschüssiger Straße ein mit vier Personen besetzter Kleinwagen hinten drauf gefahren, nachdem er an einer Vorfahrtsstraße kurz hatte halten müssen. Der Kleinwagen sei nicht eben schnell gefahren und habe letzen Endes an seinem Wagen nur einen geringen Schaden verursacht, jedoch seien beide – er selbst sowie der Fahrer des Kleinwagens – natürlich sofort ausgestiegen, um den Schaden zu begutachten. Der Unfallgegner sei ein kleiner, schmächtiger Mann von vielleicht dreißig Jahren gewesen, trug gepflegte, aber abgetragene Kleidung und wandte, statt sich zu dem Vorfall zu äußern, seine Augen fortwährend vom Stoßstangenschaden des anderen zu den Insassen in seinem eigenen Auto. Angesprochen, ob er seine Schuld aufgrund der recht eindeutigen Unfallkonstellation einsehe, oder ob man zur Feststellung der Unfallschuld die Polizei hinzuziehen sollte, bekam der Erzähler ebenfalls nur hilflose Blicke zurückgesandt, nicht unfreundlich oder wütend, sondern flehend. „Sind Sie nicht von hier?“ habe er schließlich gefragt, sowie hintergeschickt „Do you speak English?“. Doch auch die Anrede zuerst in English sowie anschließend in radegebrochenem Französisch (dabei senkte der Erzähler demutsvoll den Blick und vollführte andeutungsweise seine Schulmeistergeste) führte zu keiner Antwort. Stattdessen begann der andere unter verzweifeltem Schulterzucken, an die Seitenfenster seines Kleinwagens zu klopfen und seltsame Handbewegungen zu vollführen. Allmählich sei ihm aufgegangen, dass die Sprachlosigkeit des Gegenübers in Kombination mit dessen Handbewegungen womöglich auf einen Sprachfehler, womöglich eine gänzliche Stummheit hinweisen könnte. Doch auch auf die Frage, ob womöglich ein Sprachfehler oder etwas Ähnliches vorliege, erntete der Erzähler nur einen hilflosen Blick. Ein Fortschritt in der verfahrenen Situation lies sich erst verzeichnen, als die drei anderen Insassen des Kleinwagen unter einiges Mühen das Fahrzeug verließen und sich um die beiden Fahrer gruppierten. Einer von Ihnen habe ihm schließlich einen handgeschriebenen Zettel vorgehalten: ENTSCHULDIGEN SIE, WIR SIND ALLE TAUBSTUMM. Der Erzähler brach ab und schaute erwartungsvoll in die Runde. „Taubstumm, alle vier! Kurios, nicht wahr?“ Die Situation sei deshalb etwas prekär gewesen, weil es dem Fahrer des Kleinwagens aufgrund des ausgeprägten Vollbartes des Erzählers kaum möglich gewesen sei, von seinen Lippen abzulesen. Zudem besaßen weder er noch seine Gefährten (aufgrund ihrer Behinderung oder wegen anderer Widrigkeiten) einen Führerschein. All diese Informationen seien nach und nach mit Hilfe von Zeichensprache sowie von Zettel und Stift ausgetauscht worden. Die Umsitzenden blickten auf den Erzähler und warteten darauf, wie die unangenehme Geschichte letzten Endes bereinigt worden sei. „Ganz einfach: Ich habe die Polizei angerufen, den Schaden aufnehmen lassen und wurde zudem Zeuge, wie dem Fahrer des Kleinwagens noch an Ort und Stelle der Zündschlüssel für sein Fahrzeug abgenommen wurde.“ An dieser Stelle ergriff ich erstmals seit Beginn der Erzählung das Wort: „War das denn unbedingt nötig? Hätten nicht ein Austausch der Adressen und Versicherungsnummern sowie ein unterschriebenes Schuldeingeständnis gereicht, um die Situation ohne Hinzuziehen der Polizei zu bereinigen?“ Ohne Frage sie dies auch sein erstes Ansinnen gewesen, bemerkte der Erzähler, allerdings habe sich seine Einstellung zu dieser im Grunde harmlosen Geschichte gewendet, als er sich mit Hilfe der Stift-Zettel-Kommunikation ein bisschen mit seinem Unfallgegner auseinandergesetzt hatte. Auf des Erzählers handschriftlich formulierte Frage, wie man nun schnellstens zu einer gütlichen Klärung der ganzen Affäre gelangen könne, erhielt er eine schriftliche Antwort, deren Inhalt ihn nicht nur dazu veranlasste, die Polizei zu benachrichtigen, sondern auch, dass er den Antwortzettel aufbewahrte, so dass er ihn aus seinem Geldbeutel herausholen und der gesamten Runde präsentieren konnte. Unter die Frage nach dem effektivsten Verfahren zur Ausräumung der durch den Unfall verursachten Schäden, hatte der taubstumme Fahrer des Kleinwagens Folgendes geschrieben: WENN SIE SO FREUDLICH WÄREN, SICH IHREN VOLLBART SO ZU STUTZEN, DASS ICH IHRE LIPPENBEWEGUNGEN HINREICHEND ERKENNEN KANN? SIE SCHEINEN EINIGES ZU SAGEN ZU HABEN UND ES WÄRE ÄUßERST BEDAUERLICH, WENN ICH IHREN AUSFÜHRUNGEN NICHT GÄNZLICH FOLGEN KÖNNTE. Als der Erzähler von dem Zettel aufblickte und seinen Gegenüber überrascht ansah, habe dieser breit gegrinst. Seine Beifahrer hätten rechts und links aufgereiht neben ihm gestanden und kräftig Beifall geklatscht. Danach hätten sie sich in ihrer seltsamen Zeichensprache solcherart miteinander verständigt, dass der Erzähler fast sicher war, sie machten sich über ihn lustig. ... Comment
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