Mittwoch, 27. August 2003
Am Meer
Albtraumjaeger
02:38Uhr | tag: Dunkle Stunden
Der Strand war schmal. Zwanzig, stellenweise dreißig Meter mit scharfen Steinen durchsetzter Sand, eingeklemmt zwischen steiler Felswand und dem Meer. Das Wasser: aufgewühlt, in der Luft ein leichter, aber stetiger Wind, der den Geruch von Salz und Algen mit sich brachte. Draußen, vielleicht fünfzig Meter hinter der Wasserkante, brachen sich hohe Wellen an einem unter der Wasseroberfläche liegenden Riff, von dem nur ab und zu einige glänzend schwarze Kanten zu erkennen waren. Nur wenige Ausläufer der Brandung schafften es bis zum Strand, arbeiteten sich vor bis zum noch trockenen Sand, hinterließen Treibholz, Muschelreste und Seetang. Dutzende von Möwen waren in der Luft, dicht über der Wasseroberfläche kreischten sie und stießen immer wieder auf das unterseeische Riff hinunter. In ihr Geschrei mischte sich der Lärm der Kormoran-Kolonie, die einige hundert Meter rechts von mir auf einem einsam im Meer stehenden Felsen nistete. An einer flachen Wasserpfütze spielten zwei Kinder, ein Mädchen, ein Junge, Geschwister vielleicht. Ansonsten war kein Mensch zu sehen, keiner zu hören. >>> Wieder fielen meine Augen zu. In meinem Tagtraum verwoben sich das Rauschen der Wellen, das Pfeifen des Windes an den Felskanten und das Kreischen der Möwen. Mein Buch glitt neben mir in den Sand, eins der beiden Kinder, das Mädchen, lachte. Ihre Stimme fügte sich dabei eigentümlich harmonisch in die Rufe der Kormorane auf dem einsamen Felsen. Auch der Junge lachte, ein hohes Kinderlachen, seltsam dünn, fast schrill. Wie alt mochte er wohl sein? Vor meinem inneren Auge standen sie und starrten auf das Meer, die Münder zu einem beängstigenden Lachen verzogen. Große Flügel wuchsen ihnen, dem Mädchen schwarze Schwingen, weiße, schlanke Flügel dem Jungen und sie erhoben sich in die Luft, flogen eine Zeit lang nebeneinander und begaben sich dann zu ihresgleichen, das Mädchen auf den Kormoranfelsen, der Junge in die zänkische Schar der Möwen. Bis in die Abendstunden fischten, kreischten und flogen sie mit all den anderen und sahen langsam die Sonne im Meer versinken. Ich erwachte vom Schlag eines Kindes. Über mir gebeugt sah ich das Mädchen, wie sie mit ihren Fäusten auf mich einschlug, Brust und Gesicht treffend, vollkommen hysterisch immer und immer wieder. Ich versuchte ihre Hände zu fassen, was soll das, fragte ich, rief ich, aber es half nichts. Wie in Trance schlug sie auf mich ein, die Augen weit aufgerissen, unfähig andere Laute hervorzubringen als gequetschte Schreie, die wie Glassplitter in meine Ohren drangen. Hör auf, schrie ich und bekam ihre Hände zu fassen. Mein Gesicht war nur wenige Zentimeter vor ihrem. HÖR AUF! Sie erstarrte. Ihr Körper, gespannt wie ein Katapult, brach über mir in sich zusammen, ihr Gesicht sackte auf meine Brust. Als ich ihre Hände losließ, schnellte ihr Kopf hoch, sie starrte mich an wie einen Geist. David, flüsterte sie, David, und anderes Zeug, dass ich nicht verstand, Französisch, doch immer wieder: David. Und ihr Arm zeigte auf das Meer. Ich rannte ins Wasser dort, wo das kleine, weiße T-Shirt lag, rannte einfach weiter, bis das Meer zu tief zum Laufen war. Vor mir, hinter den schwarzen Felskanten, meinte ich einen hellen Fleck zu erkennen. Hinter mir das glassplitterschreiende Mädchen. Ich schwamm. Versuchte zu schwimmen, Kraulen, Brust, immer abwechselnd, konnte nicht entscheiden, wie ich schneller vorankam, langsam, albtraumhaft langsam kämpfte ich gegen die kleinen Wellen an und den leise pfeifenden Wind, hob immer wieder kurz den Kopf aus dem Wasser um mich zu orientieren, doch ich sah nichts als das Wasser vor mir, unter mir, nur Wellen und Schreien und die rote Sonne irgendwo zwischen Wassertropfen und Schaum. Die Luft blieb mir weg, Salzwasser im Mund, im Hals und der Lunge, ich hustete und spuckte das Salz aus und schrie David und riss mir das Knie auf, als ich auf den schwarzen Felsen trat und abglitt. Auf dem Riff stehend suchte ich den hellen Fleck. Er trieb reglos auf dem Wasser, zwanzig Meter auf dem offenen Meer. Mein rechtes Bein war taub, irgendwo flossen Blut und Wasser und Salz. Wie ein Seeräuber, dachte ich, oder Robinson. Ich rutschte die Felskante herunter und war mit einigen Schwimmzügen bei ihm. Er war kalt. Meine Hände rutschten von ihm ab, als ich versuchte, ihn zum Riff zu ziehen. Seine Augen waren geschlossen, die Lippen blau. Ich packte ihn unter den Achseln, stieß mein linkes Bein immer wieder ins Wasser und schleppte ihn zum Riff. Irgendwo hörte ich ein Flugzeug, als ich den Körper den schwarzen Felsen hochzog. Ich ließ mir Zeit, bemühte mich um möglichst wenige Kratzer auf der weißen Haut, denn ich hatte keine Ahnung, was ich nun tun sollte. In seinem Mund spürte ich Zähne, Nässe und Kälte. Das Schreien der Möwen übertönte mein Würgen, als ich die Beatmung abbrach. Ich saß gebückt über der Brust des Jungen und schlug auf seine Rippen. Ein Seeräuber, dachte ich, braucht einen Papagei. Das Atmen fiel mir schwer, ich zitterte. Am Strand stand das Mädchen, es hatte das weiße T-Shirt in der Hand und winkte mir zu. Und eine Augenklappe. Meine Faust sauste wieder auf den Brustkorb. Mit der anderen Hand winkte ich zurück. Der Schrei aus meiner Kehle hatte den Klang einer zerspringenden Glaspyramide. Und einen Schatz. Ich versuchte zu atmen, doch meine Brust zitterte unkontrolliert unter dem Glasscherbenschrei. Das Mädchen hatte aufgehört zu winken. Ihr Mund war weit geöffnet. Und einen Schiffsjungen namens David. ... Comment
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