Politische Paradoxien
Mittwoch, 17. Dezember 2003
Politische Paradoxien

Im Anschluss folgt eine Unwetterwarnung im Stil feuilletonistischer Politikschelte. Wer also des reinen Vergnügens wegen hier ist, braucht gar nicht erst hier zu klicken. >>>

Ich habe zurzeit ein ganz grundsätzliches Problem mit der deutschen Politik. Alle momentan diskutierten gesellschaftspolitischen Fragen werden vor dem Hintergrund einer Hypothese diskutiert: Es gibt keine verbindlichen Werte mehr, die in der Gesellschaft geteilt werden. Der so genannte Werteverfall ist inzwischen zu einem Allgemeinplatz geworden, der von niemandem ernsthaft in Frage gestellt wird.

Natürlich stellt sich immer die Frage, ob die so daherredenden Untergangspropheten von Werten und Normen im Allgemeinen sprechen, oder nur von ihren Werten. Wenn die Kirchen etwa den Werteverfall beklagen, schwingt unterschwellig immer mit: „Die Leute glauben nicht mehr an Gott.“ Die Gewerkschaften erkennen in ihrem Mitgliederschwund den Magel des Wertes „Solidarität“ und die national gesinnten Spezies beklagen die Überfremdung unseres Landes.

Auf der politischen Ebene ruft die Hypothese vom Werteverfall meines Erachtens nach überraschende Konsequenzen hervor, nur stört das anscheinend niemanden. Ich vereinfache an dieser Stelle und rede in meinen Beispielen nur über CDU und SPD. Dabei soll zunächst einmal die Voraussetzungen beschrieben werden. Die zurzeit am meisten diskutierten gesellschaftspolitischen Probleme hängen mit dem Wert der Solidarität zusammen. Man kann ihn auch Gesellschaftliche Verantwortlichkeit nennen und natürlich hängt der Begriff der Ehrlichkeit ebenfalls eng damit zusammen. Letzten Endes baut Solidarität auf beidem, Verantwortlichkeit und Ehrlichkeit, auf. Wenn momentan das Solidarprinzip in der Rentenversicherung und in der Krankenversicherung als (zumindest teilweise) veraltet hingestellt wird, geschieht dies nicht nur unter dem Hinweis, dass sich (Beispiel umgekehrte Alterspyramide) gesellschaftliche Grundmechanismen verschieben, sondern dass die Menschen aufgrund des allgemeinen Werteverfalls einfach nicht mehr so solidarisch verhalten wie früher. Man bescheißt die Steuer, nimmt beim Arzt die teuersten Untersuchungen mit und ist sich auch sonst vor allem „selbst der Nächste“.

Die Antwort der CDU darauf ist zynisch: Wenn Solidarität als Wert nicht mehr funktioniert, ersetzen wir sie durch einen anderen Wert: Freiheit. Das klingt gut, bleibt in der Tradition („Freiheit statt Sozialismus“), gefällt dem potentiellen Koalitionspartner und der Wirtschaft. Im Klartext bedeutet dies aber nichts anderes, als dass jeder für sich selbst zu sorgen hat. Freiheit bedeutet Selbstverantwortung auch auf solchen Gebieten, die man gar nicht zu verantworten hat. Die Begründung ist plausibel: Selbstverantwortung baut auf dem zumindest zurzeit erfolgreichsten Wert auf, dem Egoismus. Zynisch nenne ich diese Einstellung deshalb, weil sie den angeblichen gesellschaftlichen Wandel schulterzuckend hinnimmt, statt ihn -was meiner Ansicht nach echtes wertkonservatives Verhalten wäre - kritisch zu hinterfragen. Aus den Konservativen werden Opportunisten.

In der SPD, die den Wert der Solidarität wie einen Gral vor sich her trägt, geht man differenzierter vor. Man folgt auf der einen Seite „gesellschaftlichen Gegebenheiten“ (was vor allem der Regierungsverantwortung geschuldet ist) und versucht auf der anderen Seite, Solidarität in der Gesellschaft aufrechtzuerhalten, indem man sie gesetzlich verordnet. Der auch in der SPD gesehene Mangel an Solidarität in der Gesellschaft wird so umgangen, dass die unmündigen Bürger durch dreitausend Verfahrensregeln zu faktischer Solidarität gezwungen werden. Zumindest war dies eine Zeit lang der Fall. Die Regelungen zur Scheinselbständigkeit oder zu den Billigjobs sind Paradebeispiele für diese Einstellung. Inzwischen hat sich dieser Kurs aufgrund der vermeintlichen Macht des Faktischen gedreht. Man macht CDU-Politik mit dem sympathischeren Personal.

Überhört werden zurzeit solche Stimmen, die fragen, ob man nicht stärker darauf setzen sollte, Solidarität als gesellschaftlichen Wert neu zu beleben. Das liegt natürlich auch an den Personen, die zu diesen Stimmen gehören. Norbert Blüm ist ein freundlicher alter Mann, war aber in seinen letzten Jahren als Minister eine Niete. Oskar Lafontaine zieht aus teilweise richtigen Ansätzen die falschen Konsequenzen und hat sich als Politiker durch seine Kamikazeaktion 1999 vollkommen unmöglich gemacht. Dabei ist es fundamental wichtig darauf hinzuweisen, dass opportunistische Politik, die keinem anderen Wert mehr vertraut als dem Egoismus der Menschen, den Wert der Solidarität vollends aushöhlt. Wenn Egoismus belohnt wird, bleiben automatisch andere, nicht so "fortgeschrittene" Zeitgenossen auf der Strecke. Was wiederum die Argumente derer füttert, die den Egoismus als einzig funktionierenden Wert proklamieren.

Meine Schlussfolgerung ist leider eben so dünn wie dürftig: Eine Politik, die unter der Hypothese eines unaufhaltsamen Werteverfalls betrieben wird, beschleunigt diesen Werteverfall und begräbt damit gleichzeitig alle gesellschaftlichen Konzepte, die auf solidarischer Verantwortung beruhen. Um Solidarität als Wert aber wieder zu soviel Gewicht zu verhelfen, dass politische und auch finanzielle Kalkulationen darauf aufbauen können, reicht opportunistische Tagespolitik nicht aus. Vor allem: Reicht Politik nicht aus. Das Geschimpfe auf die dummen Politiker in Berlin, die in Vermittlungsausschüssen faule Kompromisse auskungeln, ist schlimmer als jede Affäre und jeder Skandal, der die Politik in den letzten Jahren geschüttelt hat. Sätze wie „Die sind doch alles Verbrecher da oben!“ sind nicht nur falsch, sie qualifizieren jeden, der sie ausspricht, als jemanden, der geistig kapituliert hat. Solange nicht jede/r einzelne – zumindest aber eine gesellschaftliche Mehrheit – bereit ist, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen, solange die Menschen unfähig sind, durch solidarisches Handeln in Vorleistung zu gehen, solange wird die Politik überhaupt nichts ändern können. Die Wertlosigkeit in der Gesellschaft (und damit in der Politik) ist ein Problem, das jeden Einzelnen betrifft. Dabei steht er/sie vor der Wahl zu kapitulieren oder dagegen anzukämpfen.

Für mich ist diese Wahl einfach: Solange man kämpft, hat man eine Wahl.

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Die Antwort der CDU darauf ist zynisch: Wenn Solidarität als Wert nicht mehr funktioniert, ersetzen wir sie durch einen anderen Wert: Freiheit. Das klingt gut, bleibt in der Tradition („Freiheit statt Sozialismus“), gefällt dem potentiellen Koalitionspartner und der Wirtschaft. Klartext bedeutet dies aber nichts anderes, als dass jeder für sich selbst zu sorgen hat. Freiheit bedeutet Selbstverantwortung auch auf solchen Gebieten, die man gar nicht zu verantworten hat. Die Begründung ist plausibel: Selbstverantwortung baut auf dem zumindest zurzeit erfolgreichsten Wert auf, dem Egoismus. Zynisch nenne ich diese Einstellung deshalb, weil sie den angeblichen gesellschaftlichen Wandel schulterzuckend hinnimmt, statt ihn -was meiner Ansicht nach echtes wertkonservatives Verhalten wäre - kritisch zu hinterfragen. Aus den Konservativen werden Opportunisten.

Aber die Welt wartet nicht auf uns, Herr Albtraumjäger. Deutschland steht im globalen Wettbewerb und ist unter der Last der Lohnnebenkosten kaum noch konkurrenzfähig. Beispiele dafür gibt es viele.
Politiker aller Parteien haben in den letzten 30 Jahren bewiesen, dass sie nicht mit Geld umgehen können. Deshalb sollte man jetzt wirklich einmal auf die Leute hören, die davon mehr verstehen, Ökonomen, und das tun, was der Sachverständigenrat der Bundesregierung seit vielen Jahren empfiehlt: die Lohnkosten von den Sozialversicherungen abkoppeln. Natürlich heißt das dann: mehr "Eigenverantwortung" und "Selbsthilfe vor Fremdhilfe".) Aber letztlich brauchen wir Nettoinvestitionen in Deutschland. Das ist die einzige Möglichkeit, Arbeitslosigkeit abzubauen und die Sozialsysteme zu entlasten. Damit ist "mehr Freiheit, weniger Sozialismus" das Sozialste, was man tun kann.

Es ist nicht die Solidarität als Wert, sondern der Sozialismus als politisches System, das nicht mehr funktioniert, noch nie funktioniert hat.
(Aber das ist Weltanschauung)
______________________________________________

Was im letzten Absatz über das "Geschimpfe auf die dummen Politiker in Berlin" steht, spricht mir aus der Seele!

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> Es ist nicht die Solidarität als Wert, sondern der
> Sozialismus als politisches System, das nicht mehr
> funktioniert, noch nie funktioniert hat.

Völlig d'accord mit dem zweiten Halbsatz. Meine Behauptung ist aber, dass Solidarität als Wert nicht mehr ernst genommen wird. Alles, was Sie zu den Ratschlägen des Sachverständigenrates sagen, kann ich mehr oder weniger unterschreiben. Wahrscheinlich habe ich mich in der Beziehung unklar ausgedrückt: Es geht mir nicht darum, Selbstverantwortung als Konzept zu verurteilen. Aber: Unter dem Deckmantel der Selbstverantwortung werden Verhaltensweisen positiv sanktioniert, die keine Selbstverantwortung sind, sondern blanker Eigennutz.

Der Grund, warum ich meinen Beitrag am Thema des Werteverfalls aufgehängt habe, ist der folgende: Ich bin der festen Überzeugung, dass alle gegenwärtigen Reformbemühungen dann in die falsche Richtung laufen, wenn sie nicht begleitet werden von einer Diskussion über die gesellschaftliche verantwortung des Einzelnen. Die Politik ist zwar andauernd damit beschäftigt, Selbstverantwortung zu predigen, aber der Begriff der Verantwortung wird nicht mit Leben gefüllt.

Wahrscheinlich bin ich da verdammt altmodisch, aber meiner Ansicht nach ist es nur möglich, eine funktionale Art der Selbstverantwortung in der Gesellschaft zu verankern, wenn es gelingt, sie - gemeinsam mit gesellschaftlicher Solidarität - als allgemeinverbindlichen Wert erneut zu etablieren. Und eben das kann Politik allein nicht leisten. Aber sie kann die Debatte über diese Werte ernsthaft anstoßen. Ungeachtet dessen muss sich jeder einzelne Bürger im Klaren darüber sein, dass letzten Endes sein Verhalten darüber entscheidet, ob aus Selbstverantwortung Verantwortung für die Gesellschaft resultiert oder reiner Egoismus.

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Hhm, ich verstehe, glaube ich, worum's Ihnen geht.
Mir selbst kommt es oft etwas luxoriös vor, über Begriffe wie Solidarität und Verantwortung nachzudenken. Dabei ist es, …naja, vielleicht nicht existenziell, aber für eine Gesellschaft zumindestens zukunftsentscheidend, sich darüber klar zu werden.

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Na klar is das hier 'ne Luxusdebatte. Aber das hier is schließlich auch ein Avantgarde-Weblog! ;-)

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Gemeinwohl als Luxus. Also ehrlich

Was? Du hast das alles für mich gemacht?
Du hast eine alte Idee in unseren Staat zurückgebracht?
Gerade noch wollte ich mir einen Drittwagen, einen Viertwohnsitz, eine Nebenbeziehung, einen vergoldeten Edelholzritualknüppel mit Edelsteinentarsien aus Afrika kaufen, damit ich meinem hochnasigen Nachbarn mit seinem Orchideenvorgarten mal stilvoll die Rübe knacken kann.
Aber Du hast mir die Augen geöffnet.

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Herr K, Sie nehm' dat alles nich ernst, Sie! Sie böser Sie!

"Was tun Sie", wurde Herr K. gefragt, "wenn Sie einen Menschen lieben?" "Ich mache einen Entwurf von ihm", sagte Herr K., "und sorge, daß er ihm ähnlich wird." "Wer? Der Entwurf?" "Nein", sagte Herr K., "der Mensch."

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Deutung ist alles, und alles ist Deutung.

Wir werden eines Tages die Welt retten.
Das weiß ich.
Wir haben den Mut dazu.
Du sagst es den Weisen, damit sie Bescheid wissen.
Ich sag es den störrischen, denn ich kann kälter und härter zu ihnen sein, bis sie lachen lernen.
Wir sagen es auch den Verzweifelten, den Verblendeten, den Verlorenen.
Gute Idee.

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Lasst uns die Welt noch einmal neu erfinden.
Der Fortschritt hat uns frierend auf einen abgelegenen Ast geführt, von dem es nur noch steil nach unten geht.
Kehren wir zurück zu einigen der Ideen, die vielversprechend waren, bevor man uns mit Halbfettmagerine und Wegwerfprominenten die Augen verkleisterte.
Wir sollten noch einmal diese Sache mit den Händen überdenken, die sich gegenseitig waschen.
Sprechen wir von zwei Händen, die wie aus einem Körper gewachsen sind, oder zweien, die sich widerwillig mit Wasser beplätschern?

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Ich finde, wir sollten die Sache mit den Händen noch viel grundsätzlicher überdenken: Wozu eigentlich Hände?

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Hin und wieder muss man sich auch den Kopf waschen lassen...

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Der handlose Mensch wäre die konsequente Überprüfungsstrategie für zivilisatorischen Fortschritt.

Und eines Tages hörte ich meine Enkelin sagen: "Zu Opa gehe ich nicht mehr. der hat noch Hände und grabscht alles damit an."

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Soviel zum Thema Handlungsfähigkeit...

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Gnagnagna...

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Was haltet ihr von einem Gesprächskreis irgendwann rund um Weihnachten mit Bier und mehr Ruhe. Ich finde das spannend und hab voll Bock mit schlauen Leuten, die gleichzeitig Freunde sind, zu sprechen. Mir fehlt leider die Zeit, jetzt was zu schreiben. Ich empfehle aber erstmal nen Artikel, der richtig gut ist und fast genau aufs Thema passt:

http://www.das-parlament.de/2001/10/beilage/002p.pdf

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Das mit den schlauen Leuten nimmst Du sofort zurück! ;-) Wenn der Herr Anonymus am 25.12. mit zu ERWIN kommt, könnwa da ja den Tresen okkupieren...

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nach dem motto: waissssu, was mid unsan lant nichinortnunk is? ichsachsiehr. die loite denken nurnoch an ihre eigne tasche, verstehse?

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