Sonntag, 18. Januar 2004
New Economy
Albtraumjaeger
23:06Uhr | tag: Einschneidenes
Ich habe einmal in einer Agentur gearbeitet, einer Internet-Agentur in der Peripherie der New Economy. Zunächst war ich dort nur Praktikant, später dann stieg ich steil auf in der unglaublich flachen Hierarchie, bekam erste Projektverantwortung, dann eigene Projekte. Ich wurde für einen Studenten ganz ordentlich bezahlt, der Kaffee aus der vollautomatischen Espresso-Maschine war aromatisch und umsonst, ich konnte den ganzen Tag im Internet surfen, rauchen (so ich es für cool oder nötig hielt), es gab eine Videospielkonsole, später eine Dartsscheibe und den ganzen Tag lief auf den meisten Rechnern einer von tausenden MP3-Songs, die dank Napster gigabyteweise auf dem Server lagen. >>> (details inside) Die einzigen Dinge, die ich für den Job können musste, waren das Erstellen trendiger Powerpoint-Folien, ein wenig HTML und – sehr wichtig – verständig mit dem Kopf nicken. Ich gewöhnte mich an den täglichen Verzehr von Döner, Börek-Teigtaschen und Schokolade aus dem Schlecker, fuhr morgens ins Büro, erledigte meine Uni-Seminare irgendwie nebenbei und ging abends - manchmal sehr spät - ziemlich fertig nach Hause. Ich habe mich zwar nie besonders mit meiner Arbeit identifiziert, wollte einfach einen guten Job machen, verstand mich aber so gut mit meinen Kollegen, dass wir manchmal nach der Arbeit noch weggingen, Bier tranken und uns über Musik und Filme unterhielten. Das Problem der Agentur war es, dass sie Dienstleistungen für andere Dotcoms anbot. Bie tu bie also. Als das Dotcom-Sterben Deutschland erreichte, als unsere Kunden einer nach dem anderen Pleite gingen, ging es auch mit der Agentur bergab. Zunächst wurde die Anzahl der freien Mitarbeiter reduziert, dann die Ausgaben für Verpflegung und sonstige Goodies, schließlich teilten uns unsere Chefs mit, dass in einigen Wochen endgültig Schluss sei. Es gab nur noch ein großes Projekt, das abgeschlossen werden musste, mein Projekt. Es ging um relativ viel Geld, Geld, das von den Gründern der Agentur dringend benötigt wurde, um mit einem blauen Auge aus dem „Abenteuer“ herauszukommen. Zwei Kolleginnen und ich wurden deshalb weiter bezahlt, um das Projekt sauber und zur Zufriedenheit unseres letzten Kunden abzuschließen. Die letzten Wochen in der Agentur waren gespenstisch. Unsere Chefs saßen in ihren Büros, reglos scheinbar, keine Ahnung, was sie noch taten, während wir im letzten noch voll besetzten Büro unseren Abschlussbericht verfassten. Wenn wir keine Lust hatten oder eine Pause brauchten, spielten wir Darts, manchmal stundenlang. Manchmal zockte ich Halflife oder Warcraft 2 gegen einen meiner Chefs im Netzwerk oder fuhr Autorennen gegen den Computer. Zwischendurch fragte uns mal jemand, ob alles glatt laufe, wir sagten „ja“ und wurden wieder in Ruhe gelassen. Zum Ende hin tauchten von vormals fünf Geschäftführern nur noch zwei regelmäßig im Büro auf. Meistens kam ich früh und ging erst sehr spät. Ich erinnere mich, wie wir einmal „The Big Lebowski“ auf einem der Rechner schauten und uns dazu mit Bier unten vom Kiosk betranken. Irgendwann zwischendurch fuhr ich in Urlaub. Der 11. September kam und ging und wir durften uns unsere Arbeitszeugnisse nach eigenen Wünschen selbst schreiben. Eines Morgens fingen die anderen an, Tische und PCs abzubauen und sie zusammen mit den Pflanzen und Regalen in der Mitte der Räume aufzustapeln. Lediglich die drei für das Projekt benötigten Rechner, Tische und Stühle blieben im hinteren Zimmer stehen. Während wir die Präsentation für das Abschlussmeeting mit dem Kunden bastelten, verkauften unsere Chefs im Nebenzimmer alle PCs und Möbel an die anderen, beschäftigungslosen Mitarbeiter. Ich selbst staubte einen Schreibtisch, einen Anton-Rollcontainer und eine Zimmerpflanze für insgesamt 150 Mark ab. Die Abschlusspräsentation war für meine Verhältnisse eine große Sache. Wir fuhren zu dritt mit dem ICE nach Hamburg und ich hielt die Präsentation ganz alleine, während meine Chefs schwiegen. Sie äußersten sich nur im Anschluss, als es um Nachverhandlungen um einige Zusatzkosten ging. Damals war ich stolz, dass sie mir bei der Präsentation voll und ganz vertrauten, inzwischen ist mir klar, dass sie weder Zeit noch Lust hatten, sich länger mit dem Projekt zu beschäftigen. Sie alle hatten sich verschuldet, ihre Konten waren zusammen mit der Dotcom-Blase geplatzt. Manchmal hatte ich ein schlechtes Gewissen, dass ich zwei Jahre lang bis zum Schluss gutes Geld auf ihre Kosten verdient hatte. Andererseits habe ich oft genug den Kunden gegenüber den Vollchecker gespielt und verständig mit dem Kopf genickt, obwohl ich gerade mal ein Student im sechsten Semester war. Habe im Namen einer gefakten Agentur Angebote bei der Konkurrenz eingeholt, um unsere Kalkulationen auf eine realistische Basis zu stellen oder habe bis nachts um vier gearbeitet, um Deadlines bei inkompetenten und schlecht zahlenden Kunden einzuhalten. Auf der Rückfahrt aus Hamburg saßen wir im ICE auf dem Boden, weil wir keine Plätze reserviert hatten. Als wir in die Agentur zurückkamen, waren die Räume schon fast leer geräumt. Wir spielten noch ein paar Runden Darts, dankten uns gegenseitig für die gute Zusammenarbeit und gingen nach Hause. Die Schlüssel für’s Büro habe ich immer noch. Es ist bis heute nicht vermietet. ... Comment
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