Mittwoch, 27. November 2002
Die Antwort
Albtraumjaeger
15:19Uhr | tag: Dunkle Stunden
Drei Tage lang saß er abends beim Essen und dachte nach. Die Fragen seiner Frau beantwortete er rein reflexartig wie in einer Trance. Da sie immer über ähnliche Dinge sprachen, bemerkte sie nichts. Erst als er am vierten Tag vom Tisch aufstand und ankündigte, er wolle noch einen Spaziergang machen, wurde sie stutzig. Ob alles in Ordnung mit ihm sei? Ja. Ob sie mitkommen solle? Nein, er wäre bald wieder da. Er griff nach seinem Mantel und ging. Tatsächlich war ihm in den vier Tagen seines Grübelns nichts eingefallen, was dieses ständige Gefühl der Unruhe zu bedeuten haben könnte. Sein Kopf war leer, keinen Gedanken konnte er länger als ein paar Sekunden festhalten, dann verschwand er schon wieder in der Leere. Das Brodeln hingegen war in den letzten Tagen immer stärker geworden, es war der einzige rote Faden in der Leere seines Kopfes. Mal war es wie die Stille vor einem großen Gewitter, die hin und wieder durch leise Donner unterbrochen wird. Mal pulsierte es wie ein immer schneller schlagendes, riesiges Herz. Mal zerrte es an seinem Kopf wie eine Sturmböe an einem Fensterladen rüttelt. Eine Welle leichter Verzweiflung stieg in ihm auf. Er würde seinen Freunden nichts zu sagen haben. Er konnte sich keinen Reim auf seinen Zustand machen. Als er an einem Zigarettenautomaten vorbeikam, beschloss er, eine Packung zu kaufen. Das hatte er noch nie vorher getan. Doch in seinem Portemonnaie fand er nur Scheine, keine Münzen. Unentschlossen stand er vor dem Automaten. Vielleicht war es ja besser so, dachte er. Die Stimme hinter ihm erschreckte ihn. Er hatte vorher niemanden bemerkt. Doch jetzt sah er einen Mann auf dem Bordstein sitzen, der an einer Hecke lehnte und aus einer Flasche trank. Er müsse einfach den Automaten aufbrechen, sagte der Mann. Er hatte eine raue, tiefe Stimme, und sie klang, als mache er sich lustig über ihn. Das könnte er nicht tun, sagte er, das sei illegal. Dann eben nicht, wenn er sich glücklich dabei fühle, entgegnete der Mann und trank wieder aus seiner Flasche. Nein, glücklich fühlte er sich ganz und gar nicht. Das Brodeln war jetzt zu einem richtigen Kessel-Brodeln angewachsen, es war wie eine riesige Menge heißen Wassers, das kurz vor dem Sieden stand. Was er da trinke, fragte er den Mann. Whisky. Ob er einen Schluck bekommen könne. Natürlich, es koste ihn nur eine Zigarette. Er schaute wieder auf den Automaten und sah sich um. Noch während er darüber nachdachte, wie es sei, wenn er den Automaten aufbrechen würde, hatten seine Hände sich längst entschlossen. Seine Augen blickten suchend nach einem geeigneten Werkzeug, sein Arm brach schließlich einen Kantenstein aus der Umrandung eines Vorgartens heraus und seine Hand ließ ihn gegen den Automaten sausen. Es gab einen gewaltigen Lärm, als der Stein das Glas und das Metall der Vorderseite durchschlug. Dutzende von Zigarettenschachteln purzelten ihm entgegen. Camel ohne bitte, sagte der Mann, der nun aufgestanden war und nachdenklich vor ihm stand. Sie sollten sich lieber aus dem Staub machen, sagte er. Er kenne da eine gute Stelle, wo sie ungestört seien. Aus einer Haustür hörte er Stimmen. Was hatte er getan? In seinem Kopf herrschte Chaos. Er sammelte einige Schachteln ein und stopfte sie in seine Manteltasche. Verwirrt und ängstlich rannte er dem erstaunlich schellen Trinker hinterher. Einige Minuten später machten sie halt. Er keuchte, bekam kaum Luft. Sie waren an einem Gehölz angekommen, an dem er morgens auf dem Weg zur Arbeit immer vorbeikam. Der Trinker klopfte ihm auf die Schulter und setzte sich auf eine Plastiktüte, die er unter eine Tanne gelegt hatte. Ob er nun einen Schluck haben wollte, fragte er ihn. Ja, gerne. Der Whisky schmeckte scharf, aber aromatisch. Kein billiges Zeug. Der Trinker holte ein Feuerzeug aus seiner Tasche, er selbst öffnete eine Schachtel Zigaretten. Beide rauchten. Als der Qualm seine Lunge erreichte, verspürte er den Drang zu husten, doch hielt er den Mund geschlossen und atmete erst einige Sekunden später wieder aus. Ein angenehmes Kribbeln durchströmte seinen Körper, er schwankte leicht und musste sich setzen. Der Trinker sah ihn durchdringend an. Wie er sich fühle, fragte er. Gut. Beide nahmen einen großen Schluck aus der Flasche. Das Brodeln! Es war noch da, aber es hatte sich wieder verändert. Gleichmäßig und ruhig wie er Motor eines LKW pulsierte es in ihm. Was er jetzt tun wolle, fragte ihn der Trinker. Das weiß ich noch nicht, antwortete er. Es gäbe ein paar Leute, denen er diese Antwort ebenfalls schuldig sei. Noch einmal lies er den Rauch der Zigarette durch seine Lunge strömen. Eigentlich, sagte er, bin ich niemandem etwas schuldig. Er lies sich nach hinten fallen, so dass er auf dem Rücken liegend den wolkenverhangenen Himmel sehen konnte. Zwischen den Wolkenfetzen sah er manchmal das Aufblitzen eines Sternes. Er schloss die Augen. In seinem Inneren fühlte er ein ruhiges, gleichmäßiges Pochen. Gleichzeitig spürte er eine seltsam gedämpfte Traurigkeit. Die Antwort würde ein Abschied sein. ... Link (2 Kommentare) ... Comment |
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