Beitrags-Archiv 28. Dezember 2002 (Seite 1 von 1)
Samstag, 28. Dezember 2002
Engel



Für Maria, Weihnachten 2002

 Eine dichte Schneedecke lag auf der Landschaft. Wiesen, Bäume, die wenigen Häuser, selbst Straßen waren hoch bedeckt mit nassem, klebrigem Schnee. Zwei Betrunkene lagen auf einer kleinen Seitenstraße und formten Engel. Sie bewegten ihre Arme auf und ab, spreizten ihre gestreckten Beine auseinander, kicherten und grölten. Schließlich schaffte es einer der beiden, sich aufzurappeln, um sich sein Werk von oben anzuschauen. Sein Engel hatte große, gleichmäßig abgerundete Flügel. Das Kleid war an einer Stelle etwas ausgefranst, dort, wo er einige Male vergeblich versucht hatte, auf die Füße zu kommen. Ein fast runder, weißer Mond bescherte der Szenerie eine gespenstische Beleuchtung. Der zweite Betrunkene war still geworden. Unter seinen vollkommen durchnässten Kleidern waren ebenfalls die Konturen eines Engels zu erkennen. Mit unsicheren Schritten, aber immer darauf bedacht, die Konturen der Engel nicht zu zerstören, wankte der erste zu seinem Trinkgefährten, um ihm auf die Füße zu helfen. Doch der lag wie steifgefroren im Schnee und rührte sich nicht. Nach einigen vergeblichen Versuchen, den Liegenden hochzuziehen, gab der erste schließlich auf. Leise fluchend setzte er sich an den Straßenrand und kramte nach seinem Mobiltelefon. Die Notrufzentrale fragte ihn nach seinem Standort, um einen Rettungswagen schicken zu können. Er wusste es nicht, erinnerte sich aber dunkel an eine Kreuzung hinter der letzten Kurve. Dort würde er bestimmt ein Straßenschild finden. Die Frau aus der Notrufzentrale wurde langsam ungeduldig. Er legte auf. Wenn er den Straßennamen wüsste, würde er noch mal anrufen. Wieder rappelte er sich auf und machte sich auf den Weg zum nächsten Straßenschild. Es schneite wieder stärker. Aus den dicken, nassen Flocken waren nun kleine, eisige Schneekristalle geworden. Auch der Wind wurde kälter. Er blickte zurück auf den dunklen Fleck, der nun schon einige hundert Meter hinter ihm lag. Er ahnte, dass sein Freund in Lebensgefahr schwebte. In einiger Entfernung vor ihm konnte er eine Straßenkreuzung unter einer Straßenlaterne erkennen. Nochmals beschleunigte er seine Schritte. Das Gehen wurde immer schwieriger. Seine Beine sanken inzwischen bis den Waden im Schnee ein. Auf einer vom Schnee bedeckten, zugefrorenen Pfütze rutschte er aus. Hart schlug sein Kopf auf der Straße auf. Bevor er bewusstlos wurde, meinte er, schwache Rufe hinter sich zu hören. Er versuchte, den Kopf zu drehen, konnte ihn aber nicht bewegen. Dann wurde es dunkel.

 Die Geburt eines Engels ist an sich keine spektakuläre Sache. Allein ihre Unvorhersehbarkeit macht sie immer wieder zu einem bemerkenswerten Ereignis. Der erste Engel erwachte, als der Betrunkene gerade mit der Notrufzentrale telefonierte. Nicht, dass er verstanden hätte, was dort am Straßenrand gerade geschah. Er verstand nicht nur die menschliche Sprache nicht, er besaß nicht einmal etwas dem menschlichen Hörsinn Vergleichbares. Die Wahrnehmungsfähigkeit eines Engels hat mit der von Sinneseindrücken geprägten menschlichen Wahrnehmung nicht viel gemeinsam. Der Engel wusste einfach, was ist. Er spürte die erregte Existenz des Telefonierenden wie auch die schwindende Existenz eines weiteren Wesens ganz in seiner Nähe. Und er wusste von einer dritten, langsam aufkeimenden Existenz, deren nähere Umstände aber seltsam verschwommen für ihn waren. Als sich der erste Betrunkene aufmachte, ein Straßenschild zu suchen, begann der Engel gerade zu begreifen, dass es äußerst praktikabel war, die Welt in den Dimensionen Raum und Zeit zu erfassen. Und er lernte etwas über Bewegung in diesen Dimensionen. Er spürte neben sich eine Bewegung der schwindenden Existenz, die wie eine Welle gegen sein Bewusstsein brandete. Der zweite Betrunkene war aufgestanden und hatte ein paar schwache Rufe abgegeben. Einige Schritte schaffte er, kippte kopfüber nach vorne und blieb liegen. In diesem Augenblick erloschen fast gleichzeitig zwei Existenzen, während die dritte, aufkeimende Existenz zu einer zeit-räumlich wahrnehmbaren Größe im Bewusstsein des Engels wurde. Ein zweiter Engel wurde geboren. In den ersten Minuten waren beide viel zu sehr mit dem Ergründen dieser Welt beschäftigt, in die sie hineingeworfen waren worden, um die Existenz des jeweils Anderen näher zu erfassen. Und noch während sie sich orientierten, während sie sich den beschränkten Dimensionen dieser Welt anzupassen begannen, erkannten sie, was Verfall bedeutet, Tod und Verlust, und sie lernten, darüber zu trauern. Immer mehr Schneeflocken fielen auf sie nieder, verwischten ihre Konturen, bedeckten die plattgedrückten Schneekristalle. Die Engel bemerkten, wie ihre perfekten Geister in immer verschwommeneren Bahnen dachten, wie ihre eben noch so jungen Existenzen ganz langsam, Flocke für Flocke, Kristall für Kristall wieder erloschen. Was für eine seltsame Welt, dachten sie da und als sie es dachten, bemerkten sie den gleichen Gedanken des anderen, wandten sich einander zu und langsam, Kristall für Kristall, erloschen ihre Geister.

 Die ganze Nacht hindurch fiel dichter Schnee auf Wiesen, Bäume, Häuser und Straßen. Er bedeckte alle Fußstapfen, alle Spuren der letzten Nacht. Der Morgen brachte einen eisigen Wind, der alle Wolken rasch vom Himmel fegte und eine rote Sonne gab für kurze Zeit ihr Licht dazu.

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danke. hat mich gefreut!
:)
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von mir auch allet
jute!
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