Zweitausendvier
Donnerstag, 30. Dezember 2004
Zweitausendvier

Verbunden mit den nachfolgenden Zeilen die höfliche Bitte, mich in meinen Bemühungen, 2004 korrekt verschlagwortet in den Archiven zu verstauen, möglichst zahlreich zu unterstützen.

Wie ich das letzte Jahr so fand, fragt mich Herr Jauch, das RTL-Monchichi. Durchgangsjahr, sage ich. Man wartet vor sich hin, wabert in seinen Zwanzigern herum und sammelt Referenzen. Nicht sehr Menschen-freundlich, meint er. Ob es da nichts Konkreteres gäbe, vielleicht eine komische Situation, ein dramatisches Erlebnis. Als ich aus der Penn-Station hinaustretend zum ersten Mal New York sah, antworte ich, sehr beeindruckend. Paperlapapp, meint er, touristische Allgemeinplätze, ist ja nicht mal ein Sportflugzeug reingeflogen. 21th-Century-Biedermeier: Arbeiten und Amerika-Urlaube. Naja, einen iPod habe ich bekommen, zu Weihnachten, stammle ich und dass ich außerdem manchmal in ein Weblog schreibe, das sei doch in Amerika gerade Wort des Jahres geworden. Und in Asien fällt ein Sack Reis ins Wasser, murmelt Jauch und ignoriert das haraldschmidteske Raunen im Publikum (Überhaupt Harald Schmidt: Wir haben ihn trotz gegenteiliger Ankündigungen nicht sehr vermisst im letzten Jahr, freuen uns natürlich trotzdem bzgl. Rückkehr zur ARD). Leben gerettet, fragt Jauch, für einen wohltätigen Zweck gespendet vielleicht? Dass ich einen Freund habe, sage ich, der für eine Anzeige des Firefox-Projektes in der FAZ gespendet hat, das sei doch quasi wohltätig, irgendwie. Dass ich des Öfteren auf das Leid der kleinen Kinder in Afrika hinweise, besonders, um die Wohlstandsleiden meiner Mitmenschen zu relativieren, oder nur so, auf Partys. Überhaupt: 2004 war ein Jahr der Provokation. Legonazis, Tchibo-Nazis, allgemein: Nazis. Hitler wird jetzt ja auch mal von einem von uns gespielt.

So wird das nichts, mäkelt Jauch, alles doch sehr gedämpft, fast schon obszöner Durchschnitt. Nette Freunde, liebe Familie, tolle Frau, einen Wäschetrockner seit ein paar Monaten, flüstere ich, sowas hat doch auch einen Wert. Aber keinen Nachrichtenwert, brüllt er mich an, dass ich ein Spießerarschloch sei, wahrscheinlich immer mehr Spaß am Kochen fände, womöglich sogar vegetarisch, abends auch mal gerne mit Freunden bei einem guten Glas Wein!! Was ich denn, sagenwamal, im Juli gemacht habe? Kann ich mich nicht erinnern. Gearbeitet wahrscheinlich, meiner Frau geholfen, die Zeit zu den Examensklausuren zu überbrücken. Joggen gewesen? Joggen gewesen. Ich laufe jetzt ja regelmäßig, Herr Jauch, so wie der Außenminister auch mal. Darum: Für meinen iPod habe ich ja auch so ein Armband... Werbepause. Man verfrachtet mich höflich, aber bestimmt aus dem Studio. Der nächste, bitte.

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004 (II)

Ah, Sie sind? - ein Blick in Richtung einer gutaussehenden Aufzeichnungsassistentin, die es noch nicht vor die Kamera geschafft, die Hoffnung aber nicht aufgegeben hat. - Herr Kailoi. Was machen Sie beruflich?
Ich studiere Erziehungswissenschaften (vereinzelte Lacher im Publikum, ein kurzes, süffisantes Lächeln huscht über Jauches Gesicht), mit Spezialisierung auf Medienpädagogik - betone ich. Mit dem Zusatz "Medien" lässt sich alles aufwerten: Mediengestalter, Medienwirkungsanalyse, Medienscheiße. Den Lacher, den die Welt für Pädagogen reserviert hat, bin ich gewohnt. Sie rufen sich das Bild ihres schrulligsten Lehrers ins Gedächtnis und legen es über meines wie eine Schablone: heraus kommt mit hoher Wahrscheinlichkeit etwas, das Günther Jauch jeden Morgen beim Rasieren freilegt. Ich behalte diese Pointe in der Zynismusquarantäne zurück. Der Typ ohne Kinn sitzt am längeren Hebel, besser nicht auf ihn schießen.
Ach, dann sind sie quasi ein Kollege! Was macht man denn so als Medienpädagoge (ein bösartiges Funkeln in den Augen, das man vom Weiten nicht sieht).
Man macht eine Pommesbude auf oder fährt Taxi: für mich wird´s wohl die Pommesbude sein, ich kann mir keine Straßennamen merken - gebe ich als gefällige Standardantwort. Das Publikum kichert brav, weil ich mich anbiedere und nicht so etwas gesagt habe wie: damit bringt man den Leuten bei, dass Deine verlogene Schwiegersohn-Kuschelnummer nichts anderes ist als eine subtilere Form von Arschkriechen, Du Leckmuschel. Nein, das bleibt alles hinter der Absperrung im Kopf.
Herr Kailoi, was ist denn in Ihrem geschulten Blick das Wichtigste gewesen, 2004?
Ich habe mir das Fernsehen so gut wie abgewöhnt und eine Menge gelesen. - Einen Moment lang herrscht Stille. Ich erwarte, dass ein RTL-Sondereinsatzkommando hereinstürmt und mich eleminiert. Aber es passiert nicht. Sie werden es später herausschneiden.
Herr Kailoi, was ist denn in Ihrem geschulten Blick das Wichtigste gewesen, 2004? - Das Publikum wirkt ausgetrocknet und leer. Die affige Pointe mit dem geschulten Blick hat schon beim ersten Versuch nicht gezündet, die Chance auf einen Neuanfang ist verspielt, harte Medienwirklichkeit trifft auf desillusioniertes Studiopublikum. Ich atme tief ein und ich lächle wie ein Gartodon. Das macht den Moderator um einige Millimeter kleiner, was man vom Weiten nicht sieht.
In den letzten Tagen scheint es in Mode gekommen zu sein, siebzig Jahre alt zu werden, und aus dem Showgeschäft auszusteigen. Jean Pütz, Alfred Biolek - das ist schade. Sie überlassen das Feld den Castingshow-Marionetten, Comedyzombies und Vivahülsen und geben noch die letzte Sendezeit für seelen- und gedankenloses Geseier, Quizshows zum Testen der Fernsehbildung und witzlose Comedyergüsse frei. Was politische Ereignisse angeht, halte ich mich zurück. Nicht nur, weil mich das als nahezu Unwissenden in politischen Sachfragen entlarven würde. Sondern auch, weil mich dieses inkompetente Stammtisch-Genörgel nervt. Überhaupt verrichten Politiker wohl die müßigste und frustrierendste Arbeit der Welt, neben den Lehrern: Sie machen einen Job, den keiner außer Ihnen machen will, den aber jeder glaubt, besser machen zu können. Sie erhalten selten bis nie ein endgültiges Ergebnis ihrer Arbeit, immer ist irgendwo Krise und immer ist jemand unzufrieden. Gut, über den Krieg im Irak durften alle mal ehrlich empört sein, die Wiederwahl von Bush lässt einen am Glauben an die Vernunft zweifeln und die alberne Opposition unserer derzeitigen Regierung mag letzerer ein gefährliches Gefühl von Sicherheit und Unkontrolliertheit vermitteln. Damit ist mein politisches Gefasel auch schon erschöpft.
Herr Kailoi, lassen Sie mich ...
Neinnein, ich bin noch nicht fertig, Herr Jauch. - Er legt seine gespielt verdutzte Miene auf, womit sein Kopf einer großen, verschrumpelten Rettichwurzel mit zwei betrübten Knopfaugen ähnelt. Er setzt zu einer artigen Schulsprecherwiderrede an, etwas im Wortlaut von "Na hören Sie mal", aber ich rede einfach weiter.
Der Internetanschluss in unserem Studentenwohnheim wurde realisiert, funktioniert aber noch nicht sehr zuverlässig. Aber es wird daran gearbeitet. Und noch etwas persönliches, allgemeines: obwohl ich mich nicht als Optimisten bezeichnen würde, bin ich immernoch zuversichtlich. Was mein Bestreben angeht, ein besserer, ein gebildeter Mensch zu werden, ein besserer Freund, Familienangehöriger, Schriftsteller, Akademiker; - die Regie spielt schnulzige Musik ein - was die kümmerlichen Überreste von Zukunftsglauben, Menschenliebe und Vertrauen betrifft, habe ich teilweise winzige, teilweise gar keine Fortschritte gemacht. Aber ich habe nicht aufgegeben.
Vielen Dank, Herr Kailoi, ich wünsche Ihnen alles Gute für 2005 und für ihr tolles Studium - PRRKK! Ein gezielter Schlag hat ihm die Kinn-Rudimente zerschmettert. ICH KANN DIESE KINDERGÄRTNER-MASCHE NICHT LEIDEN!
Werbepause.

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vielen dank für das gespräch :)

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