Unser Nachbar ist 85 Jahre alt. Klein, zäh, Brandenburger Schnauze. Manchmal schon etwas durcheinander, kein Wunder in dem Alter. Zum Beispiel, wenn bei Außenarbeiten am Haus sein Telefonkabel durch ein Missgeschick durchschnitten wird und er seinen Sohn in Berlin nicht mehr anrufen kann. Verständlich.

Gestern Abend habe ich seinen Sohn kennen gelernt. Er hat bei mir geklingelt. Abends um zehn. War ein Unfall. Wollte nur das Licht im Treppenhaus anschalten. Ne Runde spazieren gehen. Eine Rauchen. Aus Versehen den falschen Knopf erwischt. Passiert schon mal im Dunklen. Sieht seinem Vater gar nicht ähnlich. Viel zu groß, dick und insgesamt sehr fleischig. Kurzer Plausch, von meiner Seite gewürzt mit Gähnen. Er wohnt in der Hauptstadt. Gleiche Straße, in der ich auch mal gewohnt hab. Würde ihn ja rein bitten, will aber schlafen. Er fragt, ob ich noch nen Bier mit ihm trinke. Ich schaue auf meine nicht vorhandene Uhr am Handgelenk. Habe schon seit 15 Jahren keine Uhr mehr getragen, aber die Geste sitzt tief. Blöde Handys. Trägt von euch noch jemand Uhren, also aus praktischen Gründen. Nicht um zu zeigen, dass man bei Real Madrid ne Menge Kohle verdient. Egal. Also auf nen Bier. Ist stimme zu, unter der Voraussetzung, dass ich kein Warsteiner trinken muss. Warsteiner ist nur ein bierähnliches Getränk. Gesprächsgrundlagen schaffen.

Auf dem Weg ablästern über Warsteiner und Berliner Pilsener. Die Eckkneipe hat geschlossene Gesellschaft. Also die andere Eckkneipe. Bestelle ein Großes Bier. Eine Minute später knallt mir der Chef des Hauses einen Eimer Warsteiner auf den Tisch. Treffer. Lachen bei meinem Gegenüber. Kaum Schaum. Das Glas schlecht gespült. Das macht es aber leichter, nur eines zu trinken. Nehme einen Schluck, mein autogenes Negativtraining wirkt: Das Zeuch ist ungenießbar. Als die Kneipe schießt, habe ich mein Bier geschafft. Während mein Gegenüber mindestens eine Flasche Wein intus hat, leichtes Schwanken.

Habe gelernt, dass es nicht leicht ist in Berlin, wenn man Künstler ist, Mitte 50 und übergewichtig. Die letzte Ausstellung war wohl ganz gut, aber richtig davon Leben kann man davon nicht mehr. Times are changing. Früher haben die Zeitungen alles gedruckt. Satire, Karikaturen. Früher als das Handwerk noch geschätzt wurde. Den Titanic Aufmacher letztens, den fand er gut. Mit Bin Laden und Schäuble. Sonst sei auch das nur noch weichgespülte Scheiße. Traut sich ja keiner mehr was, aus Angst weggeklagt zu werden. In Frankreich und in Dänemark, da gäbe es noch 1-2 Leute, die sich was trauen. Sein Vater sei ein vorbildlicher Mann, habe sich nichts zu Schulden kommen lassen und nicht einen Tag gefehlt auf Arbeit. Wollte, dass er auch Beamter wird. Berlin, Künstler. Das kann ja nichts werden. Außerdem: Künstler sterben jung.

Amy Winehouse findet er gut, weil die so sei wie Janis Joplin. Aber sonst auch in der Musik, alles nur weichgespülte Scheiße. Letztens in der Kirche, da war ne Frau, die konnte 3 Oktaven singen. Brauchte nach jedem Lied 10 Minuten Pause. Keiner würde verstehen wie anstrengend das ist.

Ein paar Meter weiter trennen sich unsere Wege. Ich will ins Bett, endlich. Er geht noch ne Runde um den Block, spazieren, Eine Rauchen. Die Luft ist so gut, nachts, wenn alle Schlafen.