The Dirt Butterfly
Sonntag, 3. November 2002
The Dirt Butterfly

Er hatte schon eine Menge getrunken, als er anfing, deutsch zu reden. Es sei betrunken viel einfacher, lallte er und grinste. „Dann du hast keine Angst für Fehlern.“ Er war blond, mittelgroß und hatte ein sympathisches Gesicht. Ein Typ, den man gerne als Bruder hätte. Unkompliziert und immer gut gelaunt. Vor allem kein verdammter Besserwisser. Und er vertrug nicht gerade viel Alkohol. „In Sweden, it’s sooo expensive“, erklärte er mir und breitete seine Arme dabei so weit aus, wie er nur konnte. In einer eigenartigen Mischung aus Englisch und Deutsch beschrieb er mir seine Überfahrt auf einer dieser riesigen Ostseefähren. Für die Schweden musste das so eine Art Initialzündung zum Saufen sein. Sobald sie auf See gewesen wären, hätten sie den Duty Free Shop gestürmt und noch vor Ort angefangen. Meinen Einwand, der Alkohol sei in den Duty Frees immer noch ziemlich teuer, wischte er mit einer so heftigen Armbewegung beiseite, dass es ihn umriss und er auf dem aufgeweichten Boden lag. Dabei kugelte er sich vor Lachen. „Fuck you, that’s not the point“, krähte er. „It’s all imagination. We’re out of Sweden, so alcohol is cheap und easy to get.”

Alle anderen waren schon lange im Bett. Wir standen draußen vor der Jugendherberge, in der ich seit einigen Monaten Zivildienst machte. Simon war mit einer Jugendgruppe unterwegs, die auf einer Art Sprachexpedition durch Deutschland unterwegs war. Sie zogen von einer größeren Stadt in die nächste und lernten deutsch. Gestern waren sie bei uns angekommen. Übermorgen wollten sie weiter. Ihre Reiseleiterin war eine Lehrerin aus Koblenz, der es anscheinend Spaß machte, für eine Horde halbstarker skandinavischer und französischer Kids ihre Sommerferien zu opfern. Natürlich durften alle sie mit Vornamen anreden. Silke. Der Typ, der sie begleitete war ein so typischer Pädagoge, dass man ihn, so wie er war, als Modell des klassischen Alt-68ers ins Haus der Geschichte hätte verfrachten können. Jörg. Kotz. Selbst Silke mochte ihn nicht. Dabei schien sie ansonsten mit jedem Mann zu flirten, der auch nur halbwegs volljährig aussah. Gestern war ich ihr nur gerade noch entwischt. Ich hatte sie mehr oder weniger die Treppe zu ihrem Zimmer hochtragen müssen, weil zu betrunken war, um alleine den Weg zu finden. An der Zimmertür angekommen, wollte sie gerade zum Gute-Nacht-vielen-Dank-noch-mal-aber-ich-brauch-das-jetzt-einfach-Kuss ansetzen, als Simon um die Ecke gekommen war. Er suchte nach mir. „We need more Beer“, rief er, merkte allmählich was los war und grinste. „Hey Silky, don’t let him do this to you. You afford a better one. Just like me. But older an` wiser.” Dann zog er mich um die nächste Ecke. „Du bist Scheise,“ flüsterte er. „She’s not even a Bitch. She’s so boring. Let’s have some fresh beer.”

Wir hatten neues Bier, doch im Gegensatz zu mir musste er nicht um sechs Uhr morgens aufstehen. Letzten Endes schliefen wir beide nicht, sondern deckten, völlig betrunken, zusammen den Frühstückstisch. „What a shit job“, murmelte er dabei ständig. „What a bloody shit job you are doing here.” Ich mochte meinen Job. Außer zu den Essenszeiten musste man nicht viel tun, lernte dauernd neue Leute kennen und bekam sogar die eine oder andere Chance, mit verzweifelten Lehrerinnen zu knutschen. Bier war auch umsonst. Dass wir es heute Abend auch so lange ausgehalten hatten, war hauptsächlich sein Verdienst. Als die Gruppe gegen Abend von ihrer Stadtführung zurückkam, lies er sich von mir in die Küche bringen und mixte aus mindestens zehn Zutaten einen Wachmacher. Ich schmeckte Kaffee heraus und Senf. Pfeffer war auch drin, allerdings konnte man ihn wegen der großen Menge Senf nicht herausschmecken. Dann fingen wir wieder an zu trinken. Die ersten beiden Bier waren zwar schwer, aber schließlich war ich im Dienst für mein Land und musste die europäische Freundschaft intensivieren.

Simon sah aus wie ein Ferkel. Als er sich eine halbe Minuten vor Lachen auf dem Boden gewälzt hatte, gab es keine Stelle mehr an ihm, die nicht schlammig oder nass war. „War Du schon in Schweden davor?“ fragte er. „It’s quite a nice country, but they are mad in alcohol things. In every way.” Seine These mit dem Deutschsprechen klappte offenbar nur sehr mäßig. Aber er versuchte es und setzte sich aufrecht in den Matsch. „Gib mich bitte mal den... bottle opener? What’s the name for it in German?“ „Flaschenöffner.“ „Krass.“ Das Wort hatte ich ihm beigebracht. Jetzt war alles „krass“ für ihn. Das Rathaus, der Dom, die deutschen Frauen, alles. Selbst Silke und Jörg. „Krass people, wenn Du fragt mir.“ Aus einer seiner bollerigen Hosentaschen zog er eine neue Flasche Bier. Ich gab ihm den Flaschenöffner. „Fla-schen-öff-en-er“, wiederholte er, mehr lallend als redend. Mit einem Zug machte der die Flasche halb leer. Mit der anderen Hand patschte er fröhlich im Matsch neben sich herum. „Du hast krasse Worte in deutsch. Flaschenöffthing und this kind of constructing houses.“ „Fachwerkhäuser.“ „Shit yeah, Fackverk. Krass. How do you tell this thing?” In der Hand hielt er ein Stück Rindenmulch. Er murmelte das schwedische Wort dafür, aber ich verstand es nicht. „Mann Simon, das ist einfach nur Dreck“, sagte ich. „Rindenmulch. Kompost. Only dirt.“ „Fuck. Nothing's only dirt. Look. It’s like a plane.” Er krächzte ein paar Motorgeräusche und ließ das kleine Stück Holz immer wieder im Matsch starten und landen.

„Was ist das schwedische Wort dafür,“ fragte ich. Er grinste und trank mit einem letzten Zug die Flasche leer. „Ich kann nicht übersetzen. Es ist... like a butterfly. A dirt butterfly.“ „Erzähl keine Scheiße. Nicht mal die Schweden sind so dämlich und halten Dreck für Schmetterlinge.“ „Chmetterlick?“ „Schmet-ter-ling. Butterfly“, „Yeah, it’s no normal butterfly, of course. Does it look like a normal butterfly, man? Shit, no! It’s a dirt butterfly.” Er versuchte aufzustehen und landete prompt wieder in der Scheiße. Beim zweiten Mal kam er hoch. „Sie fliegt bei night, you see? They are very shy, ?cause they’re so ugly. Aber in die night, they are beautiful. Schön. Like little elves. Regardez, Monsieur!” Er ließ das Holzstück durch die Luft schweben und lallte einige Töne dazu, die wohl so etwas wie Elfengesang sein sollten. „Wiblediseldoooo. Listlewistleshoo!“ Er versuchte, ernst dabei auszusehen, obwohl es ihm schwer fiel. „Listen. Two years ago, in a midsummernight, they told me how to drink stereo! Hand me the bottles!” Ich reichte ihm zwei neue Bierflaschen. Mein Kopf drehte sich. In meinem Magen tobte ein Kampf zwischen dem Senf, dem Kaffee und einer halben Kiste Jever. Obwohl ich wusste, was nun kam, sagte ich nichts. Simon machte beide Flaschen auf, setze an und trank. Obwohl seine Augen merklich größer wurden und sein Körper unter größter Spannung stand, lief nichts daneben. Nach einer halben Minute setze er ab. Beide Flaschen waren leer und er hatte nicht einmal zwischendurch geatmet.

„He? You’ll try this, too, you sucker?!“ Er rülpste dreimal in die Nacht und wedelte mir wie wild mit dem dirt butterfly vor meinem Gesicht hin und her. “He helped me. The good old dirt butterfly. Das ist warum sie heißen dirt. They are bad. Show Swedish people how to drink more beer, although it’s sooo expensive. Fucking dirty little thing.” Er bückete sich und fing an, Hände voller Rindenmulch in die Luft zu werfen. „Shit. They want us to die. They force me to drink. Where’s the beer?” Es gab keins mehr. Er hatte alles vernichtet. “Sorry Simon, no more beer.” Ich zog mir den Pullover über das Gesicht, um nicht völlig dreckig zu werden. Aber er schrie nur „Shit! Than they’ll kill me 'cause of that.” Er warf noch eine riesige Ladung Dreck in die Luft und rannte in die Dunkelheit. „I’ll be back soon“, schrie er. „But I first need a sword.” Dann war er weg. Ich hörte, wie er im Unterholz des nahen Waldes nach einer Waffe gegen die fiesen Schmetterlinge suchte. Eins der Mulchstücke hatte sich trotz Pullover in meinen Haaren verfangen. Ich zog es heraus. Es war einfach nur Holz. Ich stellte mir vor, wie Millionen von Schweden in der Mittsommernacht, umschwirrt von tausenden kleiner Holzstückchen, verzweifelt viel zu teueres Bier in sich hineinschütteten. Warum? Das Holzstück sah nicht besonders gefährlich aus. Es sah aus wie ein kleines Stück festgewordene Minihundescheiße. Langsam meldete sich mein Magen wieder. Von Simon sah und hörte ich nichts. Wahrscheinlich schlief er irgendwo im Wald. Ich dachte an Silke. Wie alt sie wohl war. 40? Mindestens. Ob sie in der Schule wohl auch mit Schülern rummachte, wie auf ihren Sprachreisen? Bestimmt nicht. Warum auch, wenn sie in den Ferien Typen wie mich vergewaltigen konnte. Ich schaute auf den dirt butterfly und steckte ihn in die Tasche. Ob man ihn wohl zähmen konnte, um ihn als Waffe gegen aufdringliche Frauen zu benutzen? Morgen musste ich Simon danach fragen. Er kannte bestimmt eine Methode.

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