Ornithologie
Sonntag, 3. November 2002
Ornithologie

Mit funkelnden Augen schaute er sie an. Das krause Haar auf seinem Kopf wirkte wie ein wirres, undurchdringliches Dornengestrüpp. „Soll ich’s Dir zeigen?“ fragte er. Seine Stimme klang immer noch aufgeregt. „Das ist doch langweilig“, entgegnete sie. „Was soll das sein? `Ne neue Art von Anmache?“ Betont lässig warf sie sich ihren Rucksack über die Schulter. Warum hatte sie überhaupt ein Gespräch mit ihm angefangen? Ruprecht war ein totaler Außenseiter. Richtige Freunde hatte er in der Klasse nicht, ob er welche außerhalb der Schule hatte, wusste sie nicht. Wohl eher nicht. Jasmin, vor einem Jahr noch ihre beste Freundin, hatte ihr mal gesagt, dass sie ihn süß fände. Sollte sie! Doch offensichtlich wollte Ruprecht nichts von ihr. Was für ihn sprach. „Er ist eben noch ein Kind“, war damals Jasmins Erklärung. „Hat wohl Angst, dass ich ihm seine Spielzeuge klaue.“ Aber er wirkte nicht sehr kindlich, eher im Gegenteil. Im Unterricht schaute er meistens in Gedanken versunken auf irgendetwas, das sich weit hinter der Wand des Klassenraums zu befinden schien. Sandra war er ein absolutes Rätsel. Und nun stand er vor ihr und war kaum wieder zu erkennen. Sie wohnten an derselben Buslinie, doch fast immer wurde Ruprecht von seinem Vater von der Schule abgeholt. Heute nicht. Allein standen sie an der Bushaltestelle und warteten. Der Bus würde erst ein 15 Minuten da sein. „Sie fangen Fliegen und sonn’ Zeug und spießen sie dann auf. An Stacheldraht oder Dornen. Komm ich zeig’s Dir.“ Seit fünf Minuten erzählte Ruprecht ihr von irgendwelchen Vögeln, die in der Hecke an der anderen Straßenseite brüteten. „Hä?“ Sandra wusste nicht recht, was sie ihm antworten sollte. „Was ist denn da so besonderes?“ „Mann, sie spießen ihre Beute so richtig auf. Darum heißen sie auch so. Neuntöter!“ „Neuntöter.“ „Ja, weil sie angeblich erst neun Opfer töten und aufspießen, bevor sie eins auffressen“. Irgendwie war dieser Junge schon seltsam. In drei Jahren, in denen sie in dieselbe Klasse gingen, hatten sie außer ein paar Kleinigkeiten nichts miteinander zu reden gehabt und jetzt das. Er zog sie an der Hand. „Guck’s doch mal an.“ Er grinste. „Ist auch nicht gefährlich“. „Warum auch wohl“, fragte Sandra. „Es sind schließlich Vögel und keine Zombies.“ Augenrollend ließ sie sich hinter ihm herschleifen. „Dann zeig mal Deine Monster-Vögel.“ „Pssst. Sei jetzt still. Sonst hört sie uns kommen, “ erwiderte Ruprecht. Durch ein Loch schlichen sie sich hinter die Hecke und Ruprecht zeigte auf eine Stelle anderthalb Meter über der Erde. „Da, schau!“ Im dichten Gestrüpp sah Sandra ein kleines Vogelnest. Und darin saß ein Vogel. „Toll“, zischte sie, „ein Vogelnest. Hab’ ich ja noch nie gesehen.“ „Warte“, antwortete Ruprecht. „Gleich kommt das Männchen zurück.“ „Woher weißt Du, dass es das Männchen ist? Hast Du nachgeschaut?“ fragte sie ironisch. „Quatsch. Es sieht bloß ganz anders aus. Der Strich in seinem Gesicht ist schwarz und nicht braun. Und am Bauch ist das Männchen rosa und nicht weiß. Leise jetzt mal.“ Er zeigte nach rechts. Sandra sah, wie sich auf einem Zweig – ein Stück weg vom Nest – ein Vogel niederließ. Tatsächlich. Schwarzer Strich im Gesicht. Er hatte etwas im Schnabel. „Jetzt tut er’s gleich!“ flüsterte Ruprecht. Er zitterte vor Aufregung. Fast hätte Sandra geschrieen. Das war keine Fliege im Schnabel des Neuntöters, das war eine kleine Maus. Sie hasste Mäuse. Der Vogel machte sich an dem Zweig zu schaffen, der ihm gegenüber hing. Sandra sah, dass dort, an den Dornen der Hecke aufgespießt, bereits zwei Fliegen hingen. Das Aufspießen der Maus dauerte etwas, aber schließlich hing auch sie neben den anderen Opfern. Der Vogel war schon wieder weg. Sie schlichen noch etwas näher heran, wobei Ruprecht immer das Weibchen im Auge behielt, das regungslos in seinem Nest saß. „Guck mal, die lebt noch.“ Er zeigte auf die Maus. Zuerst dachte Sandra, er wollte ihr bloß Angst machen, aber dann sah sie, dass die Beine der Maus wirklich noch zuckten. ‚Ich muss hier weg! dachte sie, doch gleichzeitig merkte sie, wie ihre Neugierde sie zurückhielt. Das Zucken kam stoßweise. Als sammele die Maus immer wieder ihre Kräfte, hing sie eine zeitlang regungslos da und bäumte sich dann plötzlich mit ihrem ganzen Körper auf. Doch es half nichts. Der Dorn, an dem sie aufgespießt war, steckte tief in ihrer Brust und nach einigem weiteren Zucken wurden ihre Befreiungsversuche immer schwächer. Sandra schien es, als würde ein Auge der Maus sie direkt anschauen. Dieser Blick… Sie hatte ihn schon öfter gesehen – bei Ruprecht. Aber es war ein anderer, als der augenfunkelnde Blick, mit dem er sie an der Bushaltestelle angeschaut hatte, auch etwas anderes als die gespannte Neugier, mit der er die sterbende Maus betrachtete. Dieser hier war matt und ausdruckslos. Ihre Augen fielen auf sein Gesicht. Sie sahen sich an. „Sie schaut wie Du“, sagte sie. „Wie Du, wenn Du im Unterricht gegen die Wand starrst, als ob irgendwas dahinter wäre.“ Dann beugte sie sich vor und küsste ihn.

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