Die Nebenrolle
Sonntag, 3. November 2002
Die Nebenrolle

Die Musik geht ihm einfach nicht mehr aus dem Kopf. Immer wieder bleibt er stehen, hält den Atem an und horcht angestrengt. Da! Ganz klar Musik. Aber kommt sie von irgendwoher draußen, oder bildet er sie sich nur ein? Es ist eine seltsam eingängige Melodie. Obwohl er sicher ist, dass er sie heute zum ersten Mal hört, ist er ständig versucht, mitzusummen. Eine Weile noch bleibt er stehen, lächelt unsicher Passanten zu, die sich über sein Verhalten wundern. Steht da reglos mit auf dem Bürgersteig und lauscht. Endlich geht er weiter. Die Melodie ist gar nicht so entscheidend, denkt er plötzlich. Es ist das Arrangement der Stimmen, die Orchestrierung. Außer ihm scheint niemand etwas zu bemerken. Dabei hört er ganz deutlich die Streicher, die sich in der Melodieführung mit einem Klavier, nein, einem Flügel abwechseln. Zwischendurch Bläser. Was ist das für eine Musik? Ist sie traurig, fröhlich? Sie enthält ganz verschiedene Elemente, so dass ein klarer Charakter kaum auszumachen ist. Verdammt! Wird er womöglich verrückt? Es gibt keinen Zweifel: Diese Musik ist real, kein Hirngespinst, zumindest keines, das sich schnell vertreiben lässt. Außerdem scheint sie ihm zu folgen, sie passt sich seinen Bewegungen an. Er geht schnell ein Stück vorwärts. Auch die Musik eilt nun voran, doch nicht im Takt zu seinen Schritten, sondern im Gegentakt! Ein synkopisches Pizzicato der Geigen in jenen Momenten, in denen er gerade keinen Fuß auf der Erde hat. „Das ist gut, nicht wahr?“ Eine Stimme. Woher? „Aus dem Off, mein Lieber, einfach aus dem Off.“ Dem Off? „Dem Unsichtbaren.“ „Wo verstecken Sie sich?“ „Nirgendwo, mein Lieber. Nur leider können Sie mich nicht sehen. Genau genommen sollten Sie mich nicht einmal hören können. Die Musik auch nicht.“ „Wer sind Sie?“ „Przyschinsky. In bin der Sprecher.“ „Ein Sprecher? Was für ein Sprecher? Ein Nachrichtensprecher?“ „Nein. Der Erzähler. Ich führe durch den Prolog, die ersten Minuten. Damit die Leute schneller in das Szenario eintauchen. Das ist einer der ältesten Tricks in der Filmgeschichte, aber er funktioniert immer!“ Er biegt in eine Seitenstraße ein. Niemand weit und breit zu sehen. „Natürlich nicht. Hören Sie, lassen Sie uns weitermachen.“ Womit zum Kuckuck? „Womit denn?“ „Der Sze-ne! Die Musik ist schon fast vorbei und Sie sind noch immer nicht von der Brücke gesprungen.“ Nein, natürlich nicht. Hat er eigentlich auch nicht vor. „Warum sollte ich von einer Brücke springen?“ „Nun, weil dies eine leicht skurrile Tragikkomödie ist, und solche Filme beginnen oft mit so etwas: Einem Selbstmord. Einer schwierigen Geburt. Einem Erdbeben. Hier, nehmen sie die Brücke dahinten. Die Höhe langt auf jeden Fall. Sie können ja sicherheitshalber mit dem Kopf zuerst runter.“ Der Kopf schmerzt ihm. Alles beginnt sich zu drehen. Er läuft jetzt, sucht andere Menschen. „So ist richtig. Gleich haben wir's geschafft. Ich werde jetzt mit dem offiziellen Teil beginnen, wenn' Ihnen recht ist.“ Da! Eine Frau. „Hören Sie das auch? Die Musik und die Stimme?“ Die Frau blickt ihn sehr verunsichert an. „Nein. Ist Ihnen nicht gut?“ „Nein, ich, ich, zuerst war da nur eine Musik und dann eine Männerstimme. Hören Sie das denn nicht?“ „Soll ich vielleicht einen Krankenwagen rufen?“ „Ich bin nicht sicher. Ja vielleicht wäre das...“ „Nix da! Sie springen schön da runter!“ Wieder die Stimme. „Schaff' doch mal einer die Frau weg. Sie stört.“ Die Frau dreht sich plötzlich um und läuft davon. „He, warten Sie!“ „Lassen Sie das. Sie gehört nicht in die Szene. Ich fange jetzt an: Der Tag war eigentlich viel zu schön, um sich umzubringen, aber es war Michaels einziger freier Tag in diesem Monat. Wer weiß, wahrscheinlich war dies die letzte Möglichkeit überhaupt, dem öden Dasein vorzeitig ein Ende zu machen“. Die Musik wird jetzt fast fröhlich. Sarkastisch. Er wusste gar nicht, dass Musik einen solchen Sarkasmus verströmen kann. „Er stieg einfach auf das Geländer der Rheinbrücke, breitete die Arme aus und stürzte sich hinunter. Na los, jetzt machen sie schon! Ich will Ihnen nicht immer alles zweimal sagen müssen. Es ist eine Mordsarbeit, hinterher alles rauszuschneiden.“ Die Brücke liegt jetzt vor ihm. „Aber das ist doch gar nicht der Rhein!“ Er lebt nicht mal in der Nähe des Rheins! „Seit wann müssen alle Szenen an Originalschauplätzen gedreht werden, he? Das ist so eine Masche reicher Hollywood-Produzenten. Macht sich gut für die PR. Aber nicht bei uns. Unser Budget ist schmal genug. Jetzt Springen Sie, verdammte Axt! Muss ich erst den Regisseur holen?“ Er kann nicht mehr denken. Auf dem Bürgersteig neben dem Brückengeländer lässt er sich auf die Pflastersteine sinken und schließt die Augen. "Aufhören!" denkt er. „Es reicht, der Regisseur muss her. Die Musik ist jetzt auch schon vorbei. So ein verdammter Mist!“ Stille. Keine Musik mehr. Keine Stimme. Nichts. Vorsichtig öffnet er die Augen und blickt sich um. Hatte er eine Wahnvorstellung? Er schaut auf die Uhr: Die Arbeit! Er kommt viel zu spät. Er rafft sich auf und geht langsam auf das Ende der Brück zu. Plötzlich wird er gepackt. Sein Körper wird auf den Bürgersteig geworfen. Er schreit, versucht sich zu wehren, schlägt und tritt nach dem unsichtbaren Feind. Doch statt ihn freizugeben, schließen sich zwei eiserne Hände um seinen Oberkörper. Zwei unsichtbare, aber unglaublich starke Arme pressen ihn an das Brückengeländer. Für den Bruchteil einer Sekunde riecht er den Atem seines Feindes, ein Gemisch aus kaltem Rauch, Whiskey und einem Salamisandwich. Dann wird er in die Luft geschleudert und der Fluss rast ihm entgegen. Die Musik ist wieder da, denkt er, als er auf der Oberfläche aufschlägt.

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