Frau Professor Doktor B.
Montag, 4. November 2002
Frau Professor Doktor B.

[Vorbemerkung: Als ich im letzten Februar meiner Liebsten geholfen habe, die Professorenevalutation des Fachbereichs "Rechtswissenschaften" einzugeben, fiel mir ein Stapel Fragebögen in die Hände, in dem die Dozentin unglaublich gut bewertet wurde - und zwar nicht nur rein fachlich! Da ich insgesamt mehrere Stunden mit dem Eintippen der Bögen zubrachte, fing ich irgendwann an, mir einzelne Szenen einer Vorlesung bei dieser Dozentin vorzustellen...]

Als sie den Hörsaal betrat, nahm ich nichts anderes mehr wahr, als ihre Stimme und ihre Augen, die immer zuerst das gesamte Auditorium musterten, bevor sie zum Mikro griff. Ich hatte keine Ahnung, wie alt sie eigentlich war, auf jeden Fall sehr jung für eine Zivilrechtsprofessorin. Bereits jetzt musste ich grinsen, denn wie die meisten meiner Kommilitonen wusste ich, was jetzt kommen würde. „Piiiiiiiiiieep!“ Sie hatte das Mikrophon angeschaltet und sofort eine schmerzhafte Rückkopplung erzeugt. „Entschuldigen Sie bitte, beim nächsten Mal denke ich daran!“ Dabei rollte sie das „r“ in „daran“ ungewöhnlich stark. Obwohl ich ansonsten den fränkischen Akzent nicht ausstehen konnte, bei ihr liebte ich ihn. Versonnen schaute ich ihr zu, wie sie eine Weile mit dem Tageslichtprojektor kämpfte. Auch er schien nicht so recht bei der Sache zu sein, wenn sie vor ihm stand. Ihr cremefarbenes Kostüm saß wie immer perfekt. Während sie in einem Anflug von Verzweiflung die verschiedenen Knöpfe des Projektors ausprobierte, musste sie sich immer wieder ihr blondes, halblanges Haar aus dem Gesicht streichen. Sie wählt bestimmt CSU, dachte ich plötzlich. Eine offensichtlich bayrische Zivilrechtlerin, die konnte doch gar nicht anders! Und wenn schon. Der Tageslichtprojektor schien endgültig in Ohnmacht gefallen zu sein. Sie gab es auf. „Dann muss wohl heute die Tafel herrrrhalten!“ O glückliche Unterlage, die von ihrer Kreide berührt wird! Nein, bestimmt kommt sie aus einen stockkonservativen Elternhaus, hat sich aber in den frühen Achtzigern mit ihrem Vater überworfen und gegen den Nato-Doppelbeschluss und die Nachrüstung demonstriert. Sie blickte in meine Richtung. Sie sagte etwas. Meinte sie mich? Nein, ihr Blick wanderte weiter. Wenn sie redete, konnte man gut das Spiel ihrer Grübchen und Lachfalten beobachten. Verdammt, ich musste zuhören. Schließlich gab sie sich so viel Mühe in ihren Vorlesungen. Plötzlich schien es mir ein unerträglicher Gedanke, auch nur ein Wort, das ihren Mund verlassen hatte, nicht mitzuverfolgen, in sich aufzusaugen und für immer tief im Gedächtnis zu behalten. Doch der rasche Singsang ihres Vortrages ließ mich bald wieder wegdämmern. Wenn sie sich in meine Richtung wandte, sah ich ihre grünen Augen aufblitzen. Gott mach, dass sie nicht verheiratet ist! Natürlich war sie es. Bestimmt hatte sie auf irgendeiner Demo in Bonn einen intelligenten und gutaussehenden Philosophiestudenten aus Tübingen kennengelernt. Bestimmt hatten sie zwei Töchter, um die er sich tagsüber kümmerte, während er an seinem dritten Roman arbeitete. Wenn ich ihn jetzt sehen könnte, wie er mich mit seinen braunen Augen ernst durch seine randlose Brille anschaut; wahrscheinlich müsste ich zugeben, dass er sie verdient hatte. Mehr als wir alle zusammen. Worüber sprach sie? Vertragsrecht. Natürlich, das war ja der Titel der Veranstaltung. Ich riss meine Augen für einen Moment von ihr los, um nach rechts und links zu schauen. Alle saßen sie gebeugt in ihren Pulten und schrieben eifrig mit. Erzähl uns doch mal von Deiner wilden Zeit, als Du noch Häuser besetzt und den Atomkrieg verhindert hast, dachte ich. Warum war diese Frau nicht schon längst Dekan? Bundesrichterin oder Justizministerin? Was war eigentlich los in diesem Staat? Ich schaute auf meinen leeren Block. Wenn ich doch wenigstens ein guter Zeichner wäre! Bei diesem Motiv! Vielleicht könnte ich ein Lied über sie schreiben. Die Sonne schien nun direkt in den Vorlesungssaal und ein Sonnenstrahl traf sie mitten ins Gesicht. Ihre Lippen kräuselten sich, die Sonne hatte sie aus dem Konzept gebracht. Nicht nur sie! „Könnte vielleicht jemand so nett sein, und die Rollos etwas herunterlassen?“ Jetzt! Ich wusste sofort, dass dies meine einzige Chance war. Bis zum Schalter waren es von meinem Platz aus nur etwas fünf Meter Luftlinie. Allerdings mit drei Pultreihen dazwischen. Ich sprang auf und setzte über den ersten Tisch. Erschrockene Augen starrten mich an. „Entschuldigung, darf ich mal!“ Ich schlängelte mich zwischen einigen fluchenden Erstsemestern hindurch und war tatsächlich der erste am Schalter. Ich drückte ihn und schaute mich um. Da stand sie und lächelte. Lächelte nur für mich, sah mich direkt an. „Vielen Dank. Ein echter Gentleman.“ Sie drehte sich wieder der Tafel zu. Den Rest der Vorlesung verbrachte ich damit, die Ouvertüre meiner ersten Oper fertigzustellen.

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