Freitag, 6. Dezember 2002
Das Floss: "Die Ladung"
DIE IDEE: Der Kurzgeschichten-Zyklus "Das Floß" ist der (zugegebenermaßen relativ sentimentale) Versuch, Tagträume, Wirklichkeitsfluchten und Phantasien ganz verschiedener Personen festzuhalten. Sprachstil, Form und "Ernsthaftigkeit" der einzelnen Geschichten sind dabei völlig freigestellt. DAS PROZEDERE: Den Rahmen für den Zyklus habe ich bereits geschrieben, er ist kursiv gesetzt. Wenn Ihr ein neues Kapitel schreiben wollt, kopiert bitte diesen Einleitungsteil (DIE IDEE und DAS PROZEDERE) und den Rahmen, legt eine neue Geschichte mit dem Topic "Das Floss" an, fügt den kopierten Text dort ein und schreibt Eure Geschichte darunter. Als Titel nehmt den Titel Eurer Episode.Wenn die Fenster erloschen sind, ein leiser Regen die Letzten in die Häuser zwingt und der Wind den Abfall der Straße vor sich her treibt, träfe man auf eine äußerst merkwürdige Gesellschaft – unten, am Fluss – trieben Feuchtigkeit und Kälte einen nicht zurück ins Haus oder die Wohnung, ins Schlafzimmer oder auf die provisorische Schlafcouch, Hauptsache, ein Dach und etwas Wärme in dieser Nacht. Die Gestalten am Fluss stört dies wenig, tatsächlich sind Zeitpunkt und Witterung ihrer Treffen mit Bedacht so gewählt, dass niemand sie so, scheinbar schweigsam stehend, jeder und jede ganz in sich selbst versunken, anträfe oder gar störe. Ihre Zahl ist schwer zu schätzen; Bäume, Weiden vor allem, stehen zwischen Ihnen und um sie herum, und auch sie, die dort stehen, kennen ihre Zahl nicht genau, können sich kaum sehen zu dieser Zeit an diesem Ort. Ein Autoscheinwerfer oder das Licht einer Lampe nähme diesem Bild schnell die romantisch-mystische Attitüde, die es durch die Umstände des Zusammenkommens nur zu leicht erhält. Das kurz aufblitzende Licht eines Feuerzeugs, das für kurze Zeit – geschickt abgedeckt – dem kalten Wind trotzt, deutet den wahren Anblick der Gruppe an, der sich bei hellem Tageslicht dem Spaziergänger böte. Der Zweck dieser Zusammenkunft ist jedes Mal derselbe: Man baut ein Floß. Aus Weidenholz und fester Schnur, mit einigen Nägeln, Teer und Tuch wird ein großes Holzfloß gefertigt, das Platz für all jene bietet, die sich hier regelmäßig versammeln. Und doch ist es jedes Mal ein anderes. Genaue Form und Farbe des Gefährts wechseln ebenso wie Abfahrtszeit und Besatzung. Und immer steht eine andere der grauen Gestalten am Ruder, bestimmt die Fahrtziel und Fahrtrichtung. Nach einiger Zeit der Sammlung und des Schweigens erhebt jemand die Stimme: „Ich habe ein Floß gebaut.“ Seine Stimme klang ängstlich, unsicher und eher fragend. Er war schon oft bei anderen mitgefahren, hatte ihnen geholfen, wenn es nötig war, hatte sich mit ihnen gefreut, wenn sie fanden, was sie nicht einmal bewusst gesucht hatten. Und heute war es an ihm das Ruder in die Hand zu nehmen: Sein erstes eigenes Floß. Aber gerade weil diese Menschen, die er nicht einmal genau kannte, die er immer nur in unregelmäßigen Abständen hier am Ufer traf, auf eine seltsame Art und Weise die einzigen waren, denen er so viel Vertrauen schenken konnte, fiel es ihm so ungeheuer schwer. Obwohl er schon mehrmals alles nachgesehen hatte, begann er noch einmal die Fugen zwischen den Hölzern abzutasten, die Festigkeit des Ruders zu prüfen – wird es gut genug dein? Er wollte auch noch einmal das Segel abtasten und nach dem Paket sehen, aber er hörte immer näher das matschige Geräusch der im Schlamm tretenden Schuhe der anderen. Die Schritte, die auf ihn zukamen waren stille Fragen, die doch mit jedem Takt lauter wurden. Wie viele mochten es heute sein? Fünf? Mehr? Er konnte es nicht mal annähernd schätzen, denn nicht nur die Dunkelheit, sondern auch der Nebel hatten schon den Bau des Floßes erschwert. Wie sollte man da erst auf dem Fluss steuern? Und doch wusste er nur zu genau, dass er es nicht noch einmal versuchen würde und je mehr er das Pochen in den Adern hörte um so klarer wurde ihm, dass er jetzt all seinen Mut zusammennehmen und es ihnen erklären müsste. Also noch einmal, etwas mutiger: „Mein Floß ist fertig!“ „Wie lange?“, eine ruhige nicht zu tiefe Männerstimme, die er kannte, aber keinem Gesicht zuordnen konnte. „Ich weiß noch nicht genau, ich...“ gedämpftes, vertrautes Kichern, von zwei oder drei anderen, dass aber bereits ausreichte um ihn zu unterbrechen. Obwohl es immer so war. Das gehörte fast schon so zum Ritual, wie die Schwielen an den Händen, der Geruch frischen Weidenholzes in der feuchten Nachtluft und der immer gleiche erste Satz. Denn wer von ihnen hatte schon genau sagen können, wie lange seine Reise gehen sollte? Hier unten gab es keine Zeit. Die Gesetze der anderen Welt mussten hier unten am Fluss von neuem ihre Gültigkeit beweisen, bevor man sie anerkannte. Und die Zeit verlor scheinbar jedes mal mit diesem ersten Satz ihre Existenz-berechtigung. Dieser Gedanke gab ihm Mut, Denn diesen ersten Schritt hatte er bereits getan. Jetzt gab es kein zurück mehr. „Es kann passieren, dass es Tage werden, ohne dass sich etwas ändert und es kann auch passieren, dass wir irgendwann einfach anlanden und zurückgehen, ich weiß es noch nicht. Aber ich möchte etwas versuchen. Ich kann es euch jetzt nicht erklären und ich kann jeden verstehen, der heute nicht mitkommt. Aber jeden der es trotzdem tut, werde ich da draußen dringend brauchen. Ich weiß nicht, ob mein Floß gut geworden ist, man konnte ja kaum was sehen. Ich kann euch nichts anbieten, nichts Schönes in Aussicht stellen, aber ich brauche euch.“ Jetzt war für kurze Zeit nur das Rauschen der Weiden zu hören, gegen dass er mit seiner nervösen Stimme hatte anreden müssen. Haben sie ihn nicht verstanden? Mag dieses mal keiner mitkommen? „Das habe ich doch alles schon mal irgendwo gehört... – also los!“. Die Stimme, von weiter hinten, schon ziemlich tief im feuchten, grauen Vorhang, kam ihm noch viel beruhigender und tiefer vor, als sie es in natura hätte sein können. „Ich bin dabei“. Das kam von sehr nah, gehörte wahrscheinlich zu dem großen Schatten den er rechts vor sich zu erkennen glaubte. Ohne weitere Erklärungen hörte er wieder Schritte, konnte Gestalten erahnen, Arme, die sein Floß in Bewegung setzten. „Also los!“, auch er drückte das im tiefen Boden steckende Floß Richtung Wasser, dass sich langsam, dann immer schneller, immer leichter werdend, schließlich schwimmend auf die Flussmitte zu bewegte. Ein letztes tiefes Platschen, fast Rauschen, noch einmal neigte sich das Floß leicht und dann Stille. Jetzt waren alle an Bord. Die Schatten, die er jetzt noch am Ufer zu sehen glaubte, würden nicht mitkommen. Aber es war ihm von Anfang an klar, dass heute nicht alle mitkommen konnten. Vielleicht würden die, die jetzt noch da waren, die richtigen sein. Wie viele mochten es sein? Einer hatte ihn beim Aufsteigen fast umgerempelt, als er noch schob, um dann weiter vorn Platz zu nehmen. Mindestens ein weiterer musste auf der anderen Seite mitgeschoben haben und noch einer war nach ihm eingestiegen. Also wären sie mindestens zu viert. Ob auch eine der Frauen dabei war? Besorgt schaute er nach dem Paket, dass er schon beim Bau etwa in der Mitte zwischen Mast und Ruder abgelegt hatte. Ob es schon nass geworden ist? Der schwarze Müllsack, in den er es gesteckt hatte war nicht verschnürt, aber an dem Rascheln das er durch das Tasten mit der linken Hand erzeugte, konnte er erkennen, dass es noch da war. Die Rechte umklammerte das Ruder jetzt noch fester. Hoffentlich ist keiner dabei, der viele Fragen stellt. Wenn nur sein Freund mit der grünen, schon lange nicht mehr gewachsten Jacke und der ruhigen Art dabei wäre. Bald wird er mehr wissen, bald, wenn die Sonne aufgeht. Dann wird er die drei Gestalten erkennen können, die bei ihm sind ohne dass er sie jetzt schon so genau zählen könnte und von denen entscheidend abhängt ob er es schaffen kann. Vielleicht wird er dann schon eine Ahnung haben, ob es die richtigen sind und ob er seine Last über Bord werfen kann, ohne dass sie ihn selbst mit in die Tiefe zieht. ... Comment
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