Das Floss: "Erleuchtung"
Samstag, 7. Dezember 2002
Das Floss: "Erleuchtung"

DIE IDEE: Der Kurzgeschichten-Zyklus "Das Floß" ist der (zugegebenermaßen relativ sentimentale) Versuch, Tagträume, Wirklichkeitsfluchten und Phantasien ganz verschiedener Personen festzuhalten. Sprachstil, Form und "Ernsthaftigkeit" der einzelnen Geschichten sind dabei völlig freigestellt.

DAS PROZEDERE: Den Rahmen für den Zyklus habe ich bereits geschrieben, er ist kursiv gesetzt. Wenn Ihr ein neues Kapitel schreiben wollt, kopiert bitte diesen Einleitungsteil (DIE IDEE und DAS PROZEDERE) und den Rahmen, legt eine neue Geschichte mit dem Topic "Das Floss" an, fügt den kopierten Text dort ein und schreibt Eure Geschichte darunter. Als Titel nehmt den Titel Eurer Episode.

Wenn die Fenster erloschen sind, ein leiser Regen die Letzten in die Häuser zwingt und der Wind den Abfall der Straße vor sich her treibt, träfe man auf eine äußerst merkwürdige Gesellschaft – unten, am Fluss – trieben Feuchtigkeit und Kälte einen nicht zurück ins Haus oder die Wohnung, ins Schlafzimmer oder auf die provisorische Schlafcouch, Hauptsache, ein Dach und etwas Wärme in dieser Nacht. Die Gestalten am Fluss stört dies wenig, tatsächlich sind Zeitpunkt und Witterung ihrer Treffen mit Bedacht so gewählt, dass niemand sie so, scheinbar schweigsam stehend, jeder und jede ganz in sich selbst versunken, anträfe oder gar störe. Ihre Zahl ist schwer zu schätzen; Bäume, Weiden vor allem, stehen zwischen Ihnen und um sie herum, und auch sie, die dort stehen, kennen ihre Zahl nicht genau, können sich kaum sehen zu dieser Zeit an diesem Ort. Ein Autoscheinwerfer oder das Licht einer Lampe nähme diesem Bild schnell die romantisch- mystische Attitüde, die es durch die Umstände des Zusammenkommens nur zu leicht erhält. Das kurz aufblitzende Licht eines Feuerzeugs, das für kurze Zeit – geschickt abgedeckt – dem kalten Wind trotzt, deutet den wahren Anblick der Gruppe an, der sich bei hellem Tageslicht dem Spaziergänger böte.

Der Zweck dieser Zusammenkunft ist jedes Mal derselbe: Man baut ein Floß. Aus Weidenholz und fester Schnur, mit einigen Nägeln, Teer und Tuch wird ein großes Holzfloß gefertigt, das Platz für all jene bietet, die sich hier regelmäßig versammeln. Und doch ist es jedes Mal ein anderes. Genaue Form und Farbe des Gefährts wechseln ebenso wie Abfahrtszeit und Besatzung. Und immer steht eine andere der grauen Gestalten am Ruder, bestimmt die Fahrtziel und Fahrtrichtung.

Nach einiger Zeit der Sammlung und des Schweigens erhebt jemand die Stimme: „Ich habe ein Floß gebaut.“

So war es gewesen. Eigentlich wie immer. Es waren vier weitere an Bord: Eine Frau und drei Männer. Zwei der Stimmen hatte ich wiedererkannt. Die des Alten, der eigentlich immer da war und die eines jüngeren Mannes. Die Frau hatte bisher nicht viel gesagt und die Männer hatten nur die üblichen Fragen gestellt oder ebenfalls geschwiegen. Dieses war mein zweites Floss. Das Erste hatte sich damals in der ersten Nacht im Uferschlamm festgesetzt und alle Passagiere mussten durch die dornigen Büsche an Land zurückklettern. Es war auch nicht sehr stabil gewesen, eine der Planken hatte sich schnell abgelöst, hatte das Ganze zu einer feuchten Angelegenheit gemacht und ein vernünftiges Steuern erschwert. Es war mir damals sehr peinlich und ich hatte einigen Spott ertragen müssen. Ich hatte seitdem dazugelernt. Die Pläne für dieses Floss waren geradezu perfekt. Ich hatte an nichts anderes mehr gedacht. Den ganzen Tag beschäftigte ich mich mit den Vorbereitungen für diesen Abend. Schließlich bedurfte es nun einiger schlagender Argumente, wenn noch einmal jemand mit mir auf die Reise gehen sollte. Etwas bereitete mir seit einigen Tagen Sorgen. Ich bemerkte, dass ich nicht mehr sehr viel mit anderen Menschen sprach. Ich konnte mich auch nicht mehr so gut ausdrücken wie früher. Ich hatte vielmehr das unerklärbare Bedürfnis, laut vor mich hin zu fluchen. Ich unterdrückte dieses Bedürfnis verständlicherweise, meine Arbeitskollegen zerissen sich über mein merkwürdiges Verhalten ohnehin schon das Maul. Wie in Trance war ich umhergewandelt, hatte nicht gewusst, was ich einen Moment zuvor gerade getan hatte. Hatte mich im Wohnzimmer ertappt, ohne zu wissen, warum ich hierher gegangen war. Voller Leere, ziellos. Ich wusste, dass diese Reise alles verändern würde. Und jetzt, jetzt war es so weit. "Was für eine wunderschöne Nacht.", sagte die Frau. Sie hatte eine schöne Stimme. "Ich meine, die Sterne, das Wasser - das ist die wahre Art zu leben." Niemand fühlte sich verpflichtet, etwas darauf zu erwiedern. Die geheime Gemeinschaft, die sich am Fluss gebildet hatte, hatte sich noch nie durch einen Reichtum an Worten ausgezeichnet. "Ist ?n hübsches Floss, dass Du da gebaut hast. Hoffentlich bringt es uns weiter, als Dein letztes." Jetzt wusste ich wieder, woher ich die Stimme des einen Typen kannte. Natürlich war er beim letzten Mal dabei gewesen. Er hatte am meisten geflucht, als wir uns die Uferböschung emporkämpfen mussten und hatte im Nachhinein am meisten über mich gelacht. "Es wird bald Tag. Es dämmert schon. Das ist ein wichtiger Augenblick. Denn ein Augenblick wird es sein." Den Alten hatte ich so rätselhaft noch nie erlebt. Normalerweise sorgte er nur für Ordnung am Ufer und half den anderen bei der Abreise. Aber dieses Mal war er der Erste, der mitkommen wollte. Erst dann kamen die anderen dazu. Der Dritte schwieg. Er war schon wortlos zugestiegen. Er hatte das Floss nicht mit ins Wasser geschoben, war, wie aus einer spontanen Eingebung heraus, plötzlich dabei. Aus der Richtung meines ehemaligen Mitreisenden konnte man ein verächtliches Schnauben hören. "Oh ja, was für ein Augenblick. Ich kann es kaum erwarten, zu sehen, wie ihr bei Tageslicht ausseht. Aber wer weiß, vielleicht treibt uns unser Kapitän wieder ans Ufer und wir können nach Hause gehen. Manche Geheimnisse wollen einfach nicht gelüftet werden." "Halt Dein dummes Maul, Mann. Du weißt, was Dich sonst erwartet." Der Alte hatte nicht bedrohlich geklungen. Ich wusste nicht, was den Anderen erwartete, wenn er weitersprach, aber es brachte ihn zum Schweigen. Das Schweigen breitete sich aus und vermischte sich mit dem Nebel des anbrechenden Tages, der über dem Wasser lag. Wir waren dem Flusslauf gefolgt und der Alte hatte mir bei der ersten Gabelung den linken Flusslauf empfohlen. Auch der Andere kannte einen Teil des Flusses und hatte hinzugefügt, dass der rechte Lauf nicht mehr sehr weit führen würde. Nun waren wir an einer weiteren Gabelung angekommen. "Und jetzt?" "Jetzt musst Du Deinen eigenen Weg finden." Das hatte der Dritte gesagt. Er hatte eine sehr leise Stimme. Ich war mir nicht mal sicher, ob er es wirklich gesagt hatte. Ich wählte den rechten Lauf. Die Sonne ging auf doch man sah es noch nicht. Der Himmel färbte sich nur gespenstisch grau und jeder wusste, dass ein Teil der Geheimnisse dieses Flusses bald verschwinden würde. Der Andere traute sich nach einer Weile wieder zu sprechen, auch wenn er nicht mehr so herausfordernd klang wie sonst. "Wie sieht das aus, alter Mann, wenn wir uns gegenseitig erkennen, stellen wir uns dann einander vor?" Der Ältere schwieg, doch der Dritte murmelte nach einer Weile etwas, das wie eine Antwort klang. "Wenn Du Deine Hand im Wasser gleiten lässt und der Nebel sich über Dein Gesicht legt, solltest Du wichtigere Dinge erfahren als unsere Namen." "Da ist eine Menge Zeug im Wasser." Der Ältere seufzte laut. "Er hat einfach keine Frage. Er ist hier, weil er versucht, etwas über unsere herauszufinden.", man konnte jetzt erkennen, wie der Ältere sich dem Anderen zuwandte. "Es ist so, als würdest Du Dich an der ersten Gabelung immer für den falschen Weg entscheiden. Selbst, wenn Du längst weißt, dass er nirgendwohin führt. Denk mal drüber nach." "Ihr haltet Euch wohl alle für sehr weise. Fahrt mit einem Floss und haltet Euch für gross." Der Andere kicherte vor sich hin und freute sich über seinen schlechten Reim. "Ich kenne Leute wie Dich.", die Frau hatte sich aus ihren Gedanken losgelöst, "ist es nicht so, dass in all Deiner Ablehnung der Wunsch nach Anerkennung steckt?" "Oh ja, Du hast recht! Alles, was mir fehlt, ist ein bischen Liebe. Sag mal, hast Du morgen Abend schon was vor? Ich bau uns beiden ein Floss..." "Wieso nicht?" "Ehrlich?" Der Andere war verstummt. Das hatte er wohl nicht erwartet. Jetzt war er still. Alle anderen waren auch still. Der Himmel hatte sich feuerrot gefärbt und durch den Nebel erkannte man die ersten Einzelheiten an den Reisenden. Neugierig blickte ich umher. Ich war wohl der einzige, denn die anderen blickten starr in eine Richtung. Die Frau sass entspannt in der Mitte des Flosses. Sie war in etwa so alt wie ich und hatte dunkles Haar. Sie war offensichtlich sehr dick eingekleidet, doch zu den ganz Dünnen schien sie auch nicht zu gehören. Der Andere stand hinten am Floss und schob den Kahn mit einer Stange voran. Da ich hinten stand, um mit meiner Stange die Richtung zu bestimmen, konnte ich ihn am besten erkennen. Er war wohl etwas älter als ich und machte einen sehr trägen Eindruck. Er war nicht sehr athletisch gebaut. Seine Gliedmaßen wirkten schwach und dünn, sein Bauch wölbte seine Regenjacke etwas nach vorn. Sein Gesicht sah müde aus und unter dem ungeflegten Bart war so etwas wie eine Brandblase zu erkennen. Er sah, dass ich ihn beobachtete, grinste mich aber nur verwirrt an und schaute dann in eine andere Richtung. Der Dritte stand vorne. Er wirkte erschreckend dünn. Er trug einen Mantel und seine schmalen Schultern füllten diesen kaum aus. Er blickte immerzu nach vorn, darum konnte ich sein Gesicht nicht erkennen. Der Ältere sah garnicht so aus, wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Ich hatte immer gedacht, er hätte einen weißen Bart, oder wenigstens ein markantes, von Bartstoppeln übersähtes Gesicht. Aber er war glatt rasiert. Seine Kleidung war sehr gepflegt - fast schon unpassend für die Reise auf einem Floss. Er trug eine Art grauen Anzug aus groben Stoff, der in Widerspruch zu den Gummistiefeln an seinen Füßen stand. Ich wollte diesen magischen Moment nicht zerstören. Ich wusste, dass ich diese Leute nicht mehr vergessen würde und dass sie alle eine wichtige Rolle für mein restliches Leben spielen würden. Wenn wir uns das nächste Mal am Ufer bei den Weiden treffen sollten, wäre es nicht mehr dasselbe. Ich grübelte noch eine Weile bis ich merkte, dass ich Hunger bekam und nach dem Rucksack griff, in dem ich etwas Proviant verstaut hatte. Wortlos bot ich allen Obst und belegte Brote an und wortlos aßen wir, den jüngsten Tag in unserem Leben begrüßend.

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