Umwege
Dienstag, 7. Januar 2003
Umwege

Sie stand mitten auf der Straße. Weder zu weit links, noch zu weit rechts. Einfach mitten drauf. Wenn ich nicht gebremst hätte, wäre ich wohl nicht umhin gekommen sie zu überfahren. Da ich mich für einigermaßen homophil halte, bremste ich. Ich stand. Dann ging alles sehr schnell. Öffnen der Beifahrertür, zack, drin. Neben mir sitzt eine ca. 35-40 jährige Frau, zittert und weint. Sichtlich erschlagen und mit der Gesamtsituation ziemlich überfordert rutscht mir ein vielleicht etwas zu lautes „Wat!?“ heraus. Peng, schon habe ich das falsche gesagt. Das Weinen wird intensiver. Sie streicht sich ihre fettigen, strähnigen, brauen Haare aus dem Gesicht, wahrscheinlich damit ich ihre aufgequollene Haut besser sehen kann. Noch bevor sie das erste Mal den Mund aufmacht schlägt mir ein Geruch entgegen, der gelinde gesagt, nichts mehr mit postweihnachtlicher Entspannung zu tun hat und eher an ein zugeschissenes Dixieklo bei einem Sepultura Konzert erinnert. Als sie schließlich (leider) ihre verfaulten Zähne preisgibt, mischt sich unter den ich-habe-mir-seit-mindestens-vier-monaten-nicht-mehr-die-zähne-geputzt-und-was-ist-eigentlich-ein-zahnartz Geruch noch die Mischung dessen, was vor nicht allzu langer Zeit den Weg in den Magen der guten Dame gefunden hat. Natürlich stinkt sie bestialisch nach Bier, Schluck und Zigaretten, von denen sie ein besonders komisch duftendes Exemplar gerade im Fußbereich meines Autos austritt (Wat!?). Während meiner Zeit als Ersatzdienstleistender habe ich wohl mit allen Säften und Feststoffen des menschlichen Körpers meine Erfahrungen gemacht und seit dem ein sehr entspanntes Verhältnis zu all diesen mannigfaltigen Geräuschen, Gerüchen und Gewässern. In diesem Augenblick aber, war mir einfach nur schlecht. Dieses eher ungute Gefühl wurde noch potenziert durch die Signalhörner mehrerer PKW, die nicht sahen, was ich sah, nicht rochen, was ich roch und daher einfach nicht verstehen konnten, warum ich bei eingeschalteter Warnblinkanlage den rechten Fahrstreifen blockierte. Das Aufwachen aus schockähnlichen Zuständen entspricht dem Starten eines kränkelnden Motors, aber wenn adäquat dazu das menschliche Gehirn anspringt, dann läuft es auf Hochtouren. Meine Sammlungsphase, in der ich vor allem damit beschäftigt war, einen geeigneten Sprachcode zu ersinnen, wurde jäh von einem neuerlichen Weinanfall oder besser der Steigerung des gerade eben begonnenen unterbrochen. Ihr Hund sei geklaut worden, Timmy, er sei bei dieser Tankstelle geklaut worden, sie habe schon überall Zettel mit Photos aufgehängt. Überall. Timmy sei der einzige gewesen, dem sie vertrauen konnte. Sie habe ihr Busticket verloren. Während sie ihre Story beginnt, sich verzettelt, von neuem beginnt, versuche ich herauszufinden, was sie überhaupt von mir will. Ohne Erfolg. Ich könne ihr eh nicht helfen, aber ich solle doch gefälligst die nächste Straße rechts abbiegen, damit wir keinen Umweg fahren zu ihr nach hause. In meinem Hirn sorgt ein gedachtes „Wat!?“ für Unruhe. Ich versuche zumindest vorsichtig zu fragen, wo sie denn glaubt zu wohnen, denn mein Weg führe direkt oder fast direkt nach Bünde. Habe ich erwähnt, dass ich losgefahren bin um dem Gehupe zu entgehen und dass ich mit der linken Hand die Fahrertür festhalten musste, weil sich diese zwar aufschließen ließ, aber danach nicht mehr ihren ursprünglichen Job als Schutz vor Kälte und Schnee in der geschlossenen Form ausüben wollte. Mehr als Timmy und Kälte beschäftigte mich die Tatsache, dass meine Passagierin sich tatsächlich als solche benahm. Ihrer Meinung nach lag Ubbedissen auf dem direkten Weg nach Bünde, meiner Meinung nach wäre das Wort Umweg nicht ausreichend gewesen, um einen entsprechenden zeitlichen Mehraufwand zu beschreiben. (Für nicht in ostwestfälischer Geographie geübte Seelen sei gesagt, dass eine Strecke Berlin-Hamburg mit einem Abstecher über Frankfurt ähnliches in anderem Maßstab beschreiben würde) Während ich Madame auf die missliche Situation aufmerksam machen wollte hatte diese nichts Besseres zu tun, als mich weiterhin mit ihrem Gestank und ihren erfundenen Geschichten zu belästigen. Moment mal, roch es hier nach Urin. Nein, oder? In meine Zweifel hinein traf ich eine Entscheidung, der ich mit deutlich Worten und der entsprechenden Stimmlage Ausdruck verlieh: „Ich werde sie jetzt zur nächsten U-Bahn Station fahren, vor dort aus müssen sie selbst weiterkommen!“ Natürlich war das nicht gerade die beste Endscheidung, aber ich dachte an meine Nase, mein Auto und meine Sonnenbrille, auf der sich die gute den Arsch breit saß. Ich sei ein Unmensch, undankbar, genauso wie alle anderen und auch noch blöd und außerdem würde sie Timmy noch suchen wollen, denn Timmy sei besser als alle anderen, der einzige mit dem sie wirklich reden können, usw. Ob sie schon im Tierheim nachgefragt habe? Nein, dass würde jetzt eh alles nichts mehr bringen. Frauen wollen keine Lösung für ihre Probleme, sie wollen einfach nur drüber reden. Diese hier bestimmt. An der U-Bahn Station angelangt, bekam sie zuerst die Tür nicht auf. Während in meinem Kopf bereits Horrorvisionen von zugefrorenen Beifahrertüren und quer durchs Auto kletternden Alkoholikerinnen abgespult wurden, griff meine Hand wie selbstverständlich an meiner Kurzzeitbegleiterin vorbei und öffnete routiniert die Tür. Weil mir die nächste Frage bereits klar war, habe ich ihr noch meinen Einkaufswagen-Euro gegeben und dabei fast ihre Hand berührt. „Guten Heimweg noch und viel Glück mit ihrem Hund!“, mehr konnte ich nicht sagen, aber das hatte sie schon nicht mehr registriert und stampfte hinaus in den Schnee, ohne die Tür von außen wieder zu schließen. Scheiße, aber passte irgendwie ins Gesamtbild.

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Re: Umwege

*Glucks* Cool!

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Re: Re: Umwege

'nen kräftigen Schluck für gnä' Frau aus den Probierfläschchen bei Douglas, lebenslang Frolic für Timmi (auf dass er nicht mehr heim findet), für ChrisTel 'ne U-Bahn-Jahreskarte respektive ein desinfiziertes Volant, und ich will nur ein Päckchen Tempo ganz für mich allein. Macht Lachen eigentlich Falten? (ganz entscheidend in meinem Alter, Freunde!).
Das Leben ist schön!
Und geil und schmutzig!
Die Story werden dir deine Enkel so nicht abkaufen!

Gehe jetzt Ubbedissen suchen, kann aber dauern...

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Re: Re: Re: Umwege

Hat da etwa jemand gelacht?!
Countenance, Monsieur!

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Re: Re: Re: Re: Umwege

Hey Alpi, frach ma bei deine Frau, wieste dat nu schreiben tun sollst! Soffi Zeit muss nu wohl wirklich sein, wennste scho' ne schokoqueen inn Haus haben tust!

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Re: Re: Re: Re: Re: Umwege

Ich bin ja hellseherisch eigentlich echt unbegabt, aber das DER Kommentar noch kommt, da war ich mir fast sicher... ;-)

P.S.: Um ganz ehrlich zu sein: Ich bin in Französisch sonne Nullnummer, dass ich (wegen des hohen Niwoos [!] bei Euphorika) extra noch in Marias "Taschenwörterbuch Französisch" nachgeblättert habe, um das Wort bloß nicht falsch zu schreiben. Weil dieses Taschenwörterlexikon nu aber inne Tasche passen muss, hammse die wichtigen Wörter da nicht drin! Da habbich einfach die englische Schreibe genommen und der Kommentare geharrt, die da kommen.

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Re: Re: Re: Re: Re: Re: Umwege

So, zur meiner Ehrenrettung und insbesondere derer meines heißgeliebten Taschenwörterbuches muss ich noch hinzufügen, dass der mit mir Tisch und Bett teilende Alptraumjäger entweder nicht nachgeguckt hat (wahrscheinlich wegen der Allergie - ihr wisst schon: Francophobie) oder aber zu blöd war, auf der französischen Seite nachzugucken. Mein Taschenwörterbuch passt zwar in Taschen, aber enthält dennoch das besonders für "Deutsche die in Frankreich einen auf dicke Hose machen wollen" wichtige Wörtlein contenance. Und warum das wörl weid wäb meinem Hasilein nicht helfen konnte verstehe ich auch nicht. Aber wie gesagt, er meint das nicht bös - is so ne Art Allergie.
Bonne nuit mes amis!

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Umwege

Savoir vivre, Matze

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Re: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Umwege

Is schon nicht schön, vom eigenen Betthäschen als Lügner ("Alptraumjäger entweder nicht nachgeguckt hat") oder wahlweise als Idiot ("oder aber zu blöd war, auf der französischen Seite nachzugucken") bezeichnet zu werden *seufz*. Habbich das verdient? Ich glaube, kaum...

Werde mit ihr mal drüber reden, wenn sie aufgestanden ist, was leider bis jetzt (11:21 Uhr!!!) nicht der Fall ist. Träum süß, Hasilein!

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Re IX: Umwege

Kopf hoch Albtraumjäger, das Leben geht weiter. Sei ein Mann und stehe zu Deinen Fehlern. Es gibt schlimmeres auf dieser Welt (z.B. Solanum lycopersicum). Und dein Nick ist doch auch schon NDR-gerecht. Was willste mehr! Bin übrigens auch noch nicht lange wach, lags vielleicht an einer letzten Vorlesung in Claralogie?

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Re: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Umwege

Palle wu fronssä?

Moa, jö ßwie wigla tu lö jur, mä purqua?

Sche pa!

A bjen to!

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Re: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Umwege

da es hier schon die ganze Zeit um das mehr oder weniger geliebte Französische Wörtchen "contenance" und deren verheerende Auswirkungen geht, wollte ich doch als in Frankreich verweilende auch nochmal meinen Senf oder muss ich jetzt "muhtard" sagen, dazu geben: Also das Wort "contenance", muss ich ja zugeben, musste ich erstmal im W-buch nachschlagen, denn selbst nach 10 Monaten Frankreichaufenthalt war mir dieses Wort nie oder so selten untergekommen, dass ich damit recht wenig anfangen konnte....soviel also zur Relevanz des Wortes im Alltag eines Franzosen...und dann könnte ich ja mal ein paar Auszüge aus von Franzosen geschriebenen Texten veröffentlichen...der wahre Franzose nämlich schreibt mann ganz anders als die deutschen Schüler: commesa nämlich. Aber egal.

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Re: Re: Re: Umwege

(Wat!?)

Das Ding is genauso gelaufen, wie das da steht.

<<<Tatsachenbericht>>>

Montag, 06.01.03, ca. 18 Uhr, Voltmannstraße, Bielefeld, Höhe Dea-Tankhof

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Re: Re: Re: Re: Umwege

Nee, oder? Verrückte Scheiße. Aber, da es ja (in diesem Fall zum Glück) keine Geruchsgeschichten gibt, und Du alles in diesem metaphorischen Knisterpapier verpackt hast, ist es doch eine melanchilisch-amüsante Geschichte, wie sie nur das echte Leben da draußen bei den Menschen schreiben kann...

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