Olgenkirch Brotwein nahm seinen Hut ab um das Ei hervorzuholen, dass in einer beträchtichen Delle seines Hauptes ruhte. "Bald wirst Du frei sein, kleiner Erkling!", sagte er mehr zu sich als zu den verstreut in der Straßenbahn mitfahrenden und ungeniert gaffenden Personen. (weiter im Text ->)

Er strich sanft über die glatte, blau-grün-braune Schale des Eies, welches er vor zwei Tagen beim Reinigen der Dachrinne seines kleinen Hauses gefunden hatte. Sofort hatte er Brimbecks Vöglebuch hervorgeholt, das er von seinem Urgroßvater großmütterlicherseits geerbt hatte und schlug das Register mit den Eiern auf. Die originalgetreuen Abbildungen leiteten ihn bis zu der Stelle, an der die Darstellung dem von ihm Aufgefundenen wie ein Ei dem anderen glich. Zwar musste man einiges an Vergilbung im Buch in Betracht ziehen. Aber Olge (wie sein Vater ihn immer genannt hatte) war sich sicher, dass er das Ei eines Erklings gefunden hatte. Es war noch warm und vermutlich aus der Linde gefallen, deren Äste über sein Dach ragten und überhaupt der Grund waren, warum er die Regenrinne hatte reinigen müssen. "Wäre doch schade um Dich kleines Kerlchen...", hatte er sich so gedacht und war ab diesem genannten Tag ein Erklingspapa. Während der Arbeitszeit hatte er sich ein paar Minuten hier und da abgezwackt, um sich über seine zukünftigen Pflichten als Vater zu informieren. Aus seiner Aktentasche zog er das besagte schlaue Buch und blätterte nun den Eintrag Erkling auf. Er erfuhr, dass dieser Vogel im Jahre 1803 zuletzt in freier Wildbahn gesehen worden war und lediglich die Royal Acedemy of Natural Sciences in Ptinglelington/Großbritannien ein ausgestopftes Exemplar besaß. Er pfiff beeindruckt durch die Zähne und Wiebrach Peitermey vom Nachbarbüro dachte, das Wasser für seinen Kamillentee hätte den Siedepunkt erreicht und schlich mit atemberaubender Langsamkeit in Richtung Teeküche. Des weiteren erfuhr Olge, dass sein Vogel wohl nie fliegen können würde. Dafür aber - erstaunlicherweise - klettern! Von einer Gattung der Klettervögel hatte er bisher nie etwas gehört. Er wußte zwar, dass einige Papageien mit Schnabel und Krallen zu einigen akrobatischen Klettereien fähig waren, war sich aber unsicher, ob er sie mit dem Begriff "Klettervogel" verbinden wollte. Es stand zu lesen, die Erklinge hätten im Laufe ihrer Entwicklung wahrscheinlich erst das Fliegen verlernt, so wie es zum Beispiel bei Hühnern, Straußen und dem Neuseeländischen Kiwi der Fall sei. Letztlich drängten die Umweltbedingungen diese Vögel allerdings dazu, nur die überleben zu lassen, die zufällig klettern konnten - darwinistisch gesprochen. Von solch überraschenden Informationen überwältigt, fühlte Herr Brotwein ein leichtes Klopfen im Schädel - oder Moment, das Klopfen befand sich obenauf! Hastig und doch behutsam nahm er seine Strickmütze ab, von der er behauptete, er müsse sie aufgrund einer Durchblutungsstörung im Kopf auch innerhalb des Hauses tragen, um somit außerdem den Abteilungsleiter zu einem rätselhaften Grunzlaut zu nötigen. Atemlos folgte Olgenkirch den spektakulären Sekunden der winzigen Geburt vor seinen Augen. Unschlüssig, ob er helfend eingreifen oder sich doch besser zurückhalten sollte, entschied er sich vorerst für letzteres. Vor seinen Augen lag nun bald ein kleines Etwas aus Haut und Unbeholfenheit. Es sah fremdartig, ja fast ein bischen ekelhaft aus. Große, geschlossene Augen über einem weit aufgerissenen großen Schnabel, verbunden mit einem kaum nenenswerten Körperlein das wiederum in proportional gesehen riesige Beinchen mit ungewöhnlich geformten, mit Klauen versehenen Füßen endeten. "Na, Du bist mir einer!", flüsterte Brotwein und setzte den kleinen Wicht ganz vorsichtig in ein vorsorglich in einer Schublade eingerichtetes Nest aus zerschredderten Akten.

copyright: Kai Restemeier 2003