Heim/Haus-Report 01
Sonntag, 16. März 2003
Heim/Haus-Report 01

Ort: Bünde Koordinaten: In der Nähe des Bahnhofs zwischen einem Parkplatz und einem Friseursalon. Art des Hauses: Wohnraum über zwei Ladengeschäften (Uhrmacher und Trödelhändler) Kontext: Aufzuchtstation des Euphorika-Autors Kailoi

Ich betrete die steinernen Stufen, die zu der massiven Holz-Doppeltür hinaufführen, an der ein Emailleschild mit der Hausnummer 75 befestigt ist. Während ich gedankenverloren die linke der beiden Türen aufschließe, fällt mein Blick durch die in der Tür eingelassene Glasscheibe auf tausend Jahre alte, vergilbte und grobmaschige Gardinen. Ich betrete den kleinen Vorflur, der tagsüber frei zugänglich ist, weil die beiden Fronttüren aufgeklappt und in den Fliesen festgeriegelt werden. Die dafür in den Türflügeln eingelassenen Riegel haben ihre beste Zeit hinter sich und eine Schleifspur in den schwarz-weißen Kacheln weist anklagend darauf hin. Alles hier ist alt - nein, nostalgisch. Achtzehnhundertirgendwas wurde das Haus gebaut. Oder neunzehnhundert? Im Keller ist noch ein großer Waschkessel in einem Steinfundament eingelassen.

ChrisTel hatte die großartige Idee, laut zu fragen, wie wohl sein Zuhause aus der Perspektive eines Gastes aussähe, der zum ersten Mal zu Besuch kommt. Dieser Blickwinkel birgt einiges an Erlebnis-Potenzial: Für den, der in dem beschriebenen Haus wohnt, dem, der noch nie in diesem Haus gewesen ist und dem, der schon mal dort zu Gast war. All diese Leute gewinnen die Möglichkeit, Details zu entdecken, die Ihnen und anderen sonst nie aufgefallen wären.

Die zweite Front des Eingangstüren-Marathons baut sich vor mir auf: Links und rechts gehen die Türen zu den Geschäften ab. Vor mir wieder Türen aus Holz eine links, eine rechts. Jeweils drei untereinander angeordnete Glasscheiben mit einem eingravierten, verschlungen-chaotischen Blumenmuster in den Türen verschleiern den Blick ins Treppenhaus.

Ich dachte, es wäre vielleicht fair das Haus zu beschreiben, in dem ich aufgewachsen bin. Ich finde, man braucht schon die Zustimmung desjenigen über dessen Zuhause man schreiben will. Die Gast-Perspektive fällt mir bei der Wohnung meiner Eltern übrigens garnicht so schwer, wie man glauben möchte. Ich bin vor einiger Zeit ausgezogen und nur hin und wieder am Wochenende da.

Die Stufen der breiten Holztreppe geben ein charakteristisches, dumpf schallendes Geräusch ab. Unter dieser Treppe befindet sich nämlich direkt die Treppe, die in den Keller hinunterführt. Die einzelnen Stufen sind in der Mitte und zum Rand hin etwas abgewetzt - nicht weiter verwunderlich, sie mußten sicherlich mehr als einer Milliarde Fußtritten standhalten. Das Geräusch der Schritte auf den Treppen und das Aufschließen einer der unteren Türen kann man im ganzen Haus hören - aber eventuell nur, wenn man hier den Großteil seines bisherigen Lebens verbracht hat. Auf dem Treppengeländer bin ich als kleines Kind immer heruntergerutscht. Ein Riesenspaß war das. Naja, ich wurde immer größer, die Treppe nicht. Mit abnehmender Rutschstrecke sank der Treppenrutsch-Spaßfaktor gegen Null.

Ein neues Zuhause zu betreten, hat immer etwas magisches. Ich lerne zwar nicht so oft neue Leute kennen. Aber der Moment, wo man jemanden dort besucht, wo er oder sie wohnt ist überwältigend. Man ist auf jeden Fall meistens überrascht. Man ordnet die Leute, während man sie kennen lernt, auch irgendwelchen Wohnverhältnissen zu. Nur um letztendlich festzustellen, dass sie in Wirklichkeit ganz anders leben.

Auf die letzte, die finale Haustür trifft man, wenn man am oberen Ende der Treppe einem Knick nach links folgt und die letzten fünf Stufen heraufgeht. Der Flur begrüßt einen mit einem pragmatisch gedachten Kleiderhaken, an dem leider zu viele Jacken hängen, als das man seine eigene noch irgendwo unterbringen könnte. Wenn Gäste erwartet wurden, brachte man den gesamten Jackenkloss meistens vorübergehend auf meinem Bett unter.

Ich frage mich gerade, wie man am Besten ein Haus oder eine Wohnung beschreibt. Geht man von Raum zu Raum, zählt Möbelstücke auf, beschreibt Tapeten und die Farbe des Teppichs?

Der Eingangsbereich überwältigt durch seine Bräune. Türrahmen und Türen sind in einem schokoladigen braun gestrichen. Wandschrank und Spiegelschrank sind mahagonibraun gebeizt. Die Tapete ist an den Wänden weiß, die Zimmerdecke ist - überaschenderweise - braun gestrichen. Von diesem Raum aus kann man direkt ins Esszimmer schauen, denn die Tür wurde herausgenommen, damit im Hausflur nicht ewige Dunkelheit herrscht. Das Esszimmer trägt seinen Namen eher irrtümlich, denn gegessen wird in der Küche. Nur zu festlichen Anlässen wird der Multifunktionstisch mittels auf dem Dachboden eingelagerter Einlegeplatten verlängert und das Esszimmer macht seinem Namen dann ausnahmsweise alle Ehre. Die Küche ist sehr geräumig. Weiße Einbauschränke und himmelblaue Tapeten. Esstisch, Bank, zwei Stühle. Ein Schemel und ein alter Küchenschrank. Von dort führen Türen in Bad und Vorratsraum.

Das phänomenale Erlebnis, das ich erwartet hatte bleibt bisher aus. Es scheint mir, als wollte ich die Wohnung einem Makler schmackhaft machen oder als schriebe ich einen Aufsatz zum Thema "Mein Zuhause". So richtig gerät die Sache nicht ins Rollen.

Vom Esszimmer aus gelangt man in die beiden Räume, in denen einst mein Bruder und ich unsere Zimmer hatten. In beide Räume ist jetzt penible Ordnung und ein nicht genau bestimmbarer Nutzungszweck eingezogen. Wenn ich hier in Bünde bin, schlafe ich in meinem ehemaligen Zimmer. Obwohl mein alter Holzschrank, meine Lampen und einige Dinge mich an die Ausstattung meines Zimmers erinnern, fühle ich mich wie ein Gast...

Hmm. Eine unerwartete Wendung mischt sich in den Report. Vielleicht stelle ich das Konzept des Heim/Haus-Reports einfach mal zurück in den freien Raum und bitte darum, dass sich jemand der Sache annimmt.

Man könnte sicherlich noch reichlich viele Worte über die Räume im Keller verlieren oder über den geräumigen Dachboden und die zwei abgeteilten Räume darin, in denen vermutlich einmal Bedienstete oder wandernde Handwerksleute untergebracht worden sind. Man könnte über den Prozess der Veränderungen im Laufe der Zeit berichten. Über Tapeten, Teppiche und Möbel, die mal hier, mal dort gestanden haben. Man könnte skurrile Details erwähnen. Zum Beispiel die Zeit, in der wir einen blauen Teppichboden im Bad hatten oder das geheime Nähzimmer, welches der unaufmerksame Besucher wahrscheinlich nie entdecken würde. Aber vielleicht ist es auch ein vergebliches Unterfangen, einen Lebensraum so wirklich darzustellen, dass er einem Fremden vor dem inneren Auge erscheint. Auch der Blickwinkel des Gastes erscheint mir plötzlich nahezu unmöglich, weil man nie wissen kann worauf ein Anderer achtet wenn er ihm fremde Räume betritt. Schließlich und endlich habe ich hier doch einmal gelebt. Und sowohl die Vergangenheit wie die Zukunft verändert die Dinge. Soviel steht fest.

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???

Tut mir leid Kailoi, aber man kann und sollte seine Herkunft nicht verleugnen und versuchen alles innig zu lieben.
:-)

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!!!

Ey Zwiebl! Ich liebe wen und was ich will und nich! Ich leugne auch nich, dass ich mit der Wahrheit keine Probleme habe, wenn ich lüge!

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*fg* :-)

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