Sonntag, 23. März 2003
Erkling - die Fortsetzung
Kailoi
03:11Uhr | tag: Jetzt mache ich mal ein ganz neues Fass auf
In der Dämmerung eines gewöhnlichen Sommertages bahnte sich ein japanischer Kleinwagen seinen Weg zwischen den Getreidefeldern zielgerichtet auf eine weitläufige, bergige Region vor, die von einem dichten Wald bedeckt war. Es war ein fast rührender Anblick, wie sich das kleine, hilflos wirkende Automobil seinen Weg über die Feldwege erkämpfte, deren Verlauf durch tiefe Fährten von Traktorreifen geprägt worden war. Am Steuer saß Martin Klee, der verantwortlich für das zielgerichtete Vordringen seines Fahrzeugs in die Tiefen mitteleuropäischer Kulturlandschaften war. Nach einer Weile nahte der Zeitpunkt, an dem es sinnvoller erschien, sich zu Fuß fortzubewegen - zumindest, wenn ein bestimmter Kleinwagenfahrer nicht bei den ortsansässigen Landwirten um die Befreiung seines Vehikels aus dem Schlamm bitten wollte. Es war ohnehin nur noch ein kurzer Fußmarsch zum Waldrand, von dem aus Martin beabsichtigte, seine Erkundung zu beginnen. >>> Martin Klee war ein Amateur-Xenobiologe. Xenobiologie ist ein beliebtes Hobby, bei dem es darum geht etwas zu finden, von dem seriöse Naturwissenschaftler behaupten, es sei sehr unwahrscheinlich, dass es so etwas überhaupt gibt. Neben anderen geächteten Randbereichen der etablierten Wissenschaften, wie zum Beispiel der Ufologie, besteht auch die Xenobiologie hauptsächlich darauf, herablassend schmunzelnden Skeptikern die Ernsthaftigkeit der Sache zu vermitteln und sich von selbstverständlich ungerechtfertigter Kritik und reichlich deplaziertem Spott von Seiten der Medien nicht entmutigen zu lassen. Den Waldrand erreichend, überprüfte Martin ein letztes Mal seine Ausrüstung: Ein Fernglas, Fotoapparat, Taschenlampe, Notizblock, Proviant - da stellte er fest, dass er die Videokamera im Kofferraum vergessen hatte. Er hatte keine Lust, noch einmal zurück zu trotten. Schließlich hatte er noch ein ganzes Stück des Weges vor sich. Ohnehin schien es ein ungeschriebenes Naturgesetz zu geben welches verbot, dass eine Videokamera im entscheidenden Moment funktionierte. Bewusst nicht den üblichen Wanderwegen folgend schlug sich Martin durch den stacheligen Brombeerbewuchs am Waldrand in die noch dichteren Bereiche des Waldes vor. Er hatte Gerüchte gehört, dass es in diesem Waldstück einen seltenen Vogel geben sollte. Eine Art, deren tatsächliche Existenz man nie wirklich hatte beweisen können und die in Vogelkundebüchern als scherzhafter Eintrag oder unter dem Etikett "Kuriositäten" gehandelt wurde. Mittlerweile war man der Meinung, dass jene Art, sofern sie je existiert hatte, mittlerweile ausgestorben sein musste. Die Kraft, die Martin immer tiefer in den eher unzugänglichen Teil des Waldes trieb war recht offensichtlich. Immer wieder sah er die Titelseiten der Zeitungen und Topmeldungen in Fernsehen, Radio und Internet: Bisher unbekannte Vogelart in Mitteleuropa entdeckt. Daran, dass ihm im Falle eines Erfolges einiges an öffentlicher Aufmerksamkeit sicher war, bestand für ihn kein Zweifel. Immerhin suchte er nicht nach einem beliebigen Piepmatz, der so ähnlich wie eine Kohlmeise aussah und sich von Bucheckern ernährte. Er suchte nach dem Erkling, einem etwa ein Meter großen Klettervogel, der, nebenbei erwähnt, auch noch ein gefährlicher Jäger sein sollte. Ein leichter Schauer jagte über seinen Rücken, als Martin sich diese gefiederte Bestie vor Augen führte, die er von gezeichneten Abbildungen in einigen alten Büchern kannte. Dieser Schauer stand in blankem Gegensatz zu der friedlichen Stille des abendlichen Waldes, in dem sich die bekannteren Vertreter dieses Ökosystems auf die Nacht einstellten. Es war schwer vorzustellen, dass Jahrhunderte menschlicher Bemühungen, die Welt ihren Vorstellungen anzupassen an diesem Lebewesen vorbeigegangen waren. In all dieser Zeit war man sehr erfolgreich damit gewesen, alle Tierarten, von denen eine potenzielle Bedrohung ausging, entweder bis zu ihrer Auslöschung zu jagen oder ihnen schlichtweg die Lebensgrundlage zu entziehen. Selbst der Wald hatte die wesentlichen Züge von Urtümlichkeit verloren und existierte lediglich aufgrund der Tatsache, dass man Bäume zur Produktion von Holz benötigte und dass auf Bergen weder Landwirtschaft noch Bauwesen in gewinnbringenden Maßstäben möglich waren. Aber allein dieser Sachverhalt, so legte sich Klee zurecht, gab den Erklingen einen entscheidenden Vorteil: Niemand erwartete, dass sie nicht längst aufgegeben und in die lange Reihe der ausgestrobenen Arten eingereiht hatten. Das Blätterdach über den Bäumen wurde immer dichter und die Dämmerung trug ihr übriges zur zunehmenden Dunkelheit bei. Der Bewuchs des Bodens nahm ab und ermöglichte ein leichteres Vorankommen. Totes Laub federte die Schritte wie ein sehr kostspieliger Teppich und nur das schlurfende Rascheln desselben durchbrach die vorherrschende Stille. Hin und wieder hallte hölzernes Klopfen, leises Knarren der Äste und das leichte Rauschen der im Wind flatternden Blätter durch die Luft zwischen den Bäumen. Dennoch vermochten diese Geräusche nicht den Eindruck von absoluter Stille so sehr zu stören, wie es das Laubstapfen und Schlurfen von Martin tat. Er beschloß, halt zu machen und auf einem halb umgestürzten Baum einen Aussichtsposten zu errichten. Er wußte, worauf er achten musste und lenkte seine Aufmerksamkeit auf die im matten Licht grau werdenden Baumstämme, die um ihn in den Himmel hinaufragten. Nun war er von der Atmosphäre des Waldes wie von einem Tarnmantel umhüllt. Eine ihm bisher unbekannte Nervosität keimte in seinem Inneren auf. Er war ein Kind der technisierten Neuzeit. Und doch löste diese ganz andere Umgebung Gefühle in ihm aus, die ihn mit den ältesten verbliebenen Bestandteilen des menschlichen Wesens konfrontierten. Plötzlich wurde ihm klar, dass man die Wälder, die den gesamten Kontinent einmal bedeckt hatten, nicht nur aus dem Bedarf an Holz und Raum für Landwirtschaft zerstört hatte. Sicherlich waren das einleuchtende Gründe. Dennoch ging selbst von einem Wald, der frei von Wölfen und Bären war, eine beängstigende Macht aus. Selbst in der heutigen aufgeklärten Zeit gingen nicht wenige Schauermärchen und Tatsachenberichte um, in denen der Wald einen wesentlichen Teil des Schaurigen ausmachte. Sich selbst beruhigend schmiegte Martin sich mit dem Rücken fest an den halb umgestürzten Baumstamm, spürte die Struktur der rauhen Borke durch seine dicke Jacke hindurch. Für einen Moment zweifelte er selbst an dem Sinn seines Planes. Er sollte an einem Wochenende nicht in einem Wald herumliegen. Er sollte vor dem Fernsehgerät sitzen, wie die meisten anderen Leute es ebenfalls taten. Oder mal wieder ausgehen, etwas mit Freunden unternehmen. Er versuchte, dem Impuls zu widerstehen, einfach aufzustehen, und sich auf den Rückweg zu machen. Selbst wenn - und da war er sich längst nicht mehr so sicher wie noch vor einigen Stunden - es diese Erklinge gab, war es höchst unwahrscheinlich, einen zu sehen zu bekommen. Er wusste, dass Tierfilmer, die allgemein bekannte Vogelarten wie zum Beispiel Graureiher filmen wollten, sich tagelang still auf die Lauer legen mussten, um einige Sekunden ihren Star vor die Linse zu bekommen. Ein zunehmendes Gefühl der Dämlichkeit senkte sich zusammen mit der klammen Kälte auf ihn herab. Trotzdem fühlte er sich gerade in seiner Regungslosigkeit und Verbundenheit mit dem schräg liegenden Baumstamm sehr komfortabel. Beziehungsweise erschien es ihm unmöglich, jetzt einfach aufzustehen und kampflos aufzugeben. Außerdem war das Erlebnis hier zu sein an sich schon eine beeindruckende Erfahrung. Eine weitere, endlos erscheinende Weile lang passierte garnichts. Martin entwickelte so etwas wie ein Gespür für die Verursacher und den Ort von den entfernt immer noch auftretenden Geräuschen. Ein morscher Ast ergab sich der Schwerkraft und fiel nach einem entsetzten Quieken in einiger Enternung ins Laub. Noch weiter entfernt wühlten vermutlich Wildschweine nach nahrhaftem Getier im Waldboden. Dann... Seltsam. Dieses Geräusch war nicht so leicht einzuordnen. Es musste irgendwo entfernt vor ihm entsprungen sein. Ein stumpfes, ganz leichtes Geräusch. Eine Mischung aus Scharren, Kratzen und Klopfen. Dann wieder. Jeweils von einer ungewöhnlich langen Pause unterbrochen trat das Gräusch auf. Und näherte sich. Sich bemühend, nicht den geringsten Laut zu machen, hob Martin das seitlich an seinem Hals herunterbaumelnde Fernglas an seine Augen und hoffte, in den Siluetten des frühabendlichen Waldes wenigstens eine Bewegung auszumachen. Die Pausen zwischen den Geräuschen wurden länger. Dann ein Neues, ein beunruhigenderes Geräusch: Ein sanftes, aber klar vernehmbares Stimmchen erklang - Hihihihihi. Eine schnelle Folge, die abrupt verklang und leise in den tiefen des Waldes verhallte. Martin erstarrte. Teils aus Überraschung, teils aus gespannter Aufmerksamkeit heraus. Wie schwarze Riesen erhoben sich die Bäume um ihn. Stumme Zeugen der unheimlichen Szenerie. Hehehehe. Wie eine Antwort von einem anderen Punkt irgendwo vorne oben. Sein Blick fiel immer noch durch das Fernglas, eine Reihe von Bäumen im Visier. Da! Begleitet vom Kratzklopfen huschte etwas durch sein Blickfeld. Zu schnell, um begreifbar zu sein. Wieder geschah einen schmerzhaften Augenblick lang nichts. Als wären die vergangenen Ereignisse eine Täuschung seines phantasiebegabten, gelangweilten Verstandes gewesen. Martin wagte eine leichte Bewegung des Fernglases in die Richtung, in der er das Ziel der vorangegangenen Bewegung vermutete. Seine Ausstattung erwies sich als die eines Amateurs. Ein Nachtsichtgerät wäre jetzt die angemessene Ausrüstung gewesen. Mittlerweile konnte er nur Schemen in schwarz und dunkelblau unterscheiden. Lediglich an einigen Stellen fiel silbernes Mondlicht durch das dichte Blätterdach und zeichnete geisterhafte Flächen auf die Bäume. Weitere, sich nähernde Geräusche. Was immer es war, es musste sich jetzt in unmittelbarer Nähe befinden. Völlig unerwartet setzte mit einem Kratzklopflaut etwas nur wenige Meter vor ihm auf dem umgestürtzten Baumstamm auf. Da Martin sich bereits in einem Zustand höchster Anspannung befand, boten ihm seine Muskeln wenig Spielraum für ein erschrecktes Zusammenzucken. Er verharrte reglos. In einer, wie er hoffte, kaum vernehmbaren Geschwindigkeit ließ er das Fernglas sinken. Das Mondlicht erhellte eher schlecht als recht ein Wesen, dass ihm eigentümlich bekannt vorkam. Er konnte nicht genau sagen, ob das ihm zugewandte Auge ihn direkt ansah oder durch ihn hindurch. Durch einen gewaltigen Schnabel, der leicht geöffnet war, drang ein kaum vernehmbares Hecheln. Der Körper des Wesens verschmolz beinahe mit dem Hintergrund und wankte athletisch über den kräftigen Beinen. Beeindruckende Krallen klammerten sich fest und unverrückbar in den mächtigen Stamm unter ihnen. Krallen, die eine kompromisslose Kraft ausstrahlten. Für einen Moment lang verharrten beide wie in einem Gespräch, bei dem beiden Beteiligten die richtigen Worte fehlten. Die Zeit verlief für Martin in Einheiten, die man auf keiner Uhr darstellen konnte. Der wahrhaftige Erkling beendete die Situation, wie er sie begonnen hatte - überraschend. Er rief ein lautes "Hehehe-he" und sprang mit einem unglaublichen Satz, die Krallen im richtigen Augenblick Kratzend aus der Borke lösend, in die Dunkelheit davon. Der Ruf brannte sich in Martin Klees Gedächtnis ein, während sein Blut gefror. Noch lange Zeit später sollte er hin und wieder nachts aufwachen und das Nachhallen dieses Rufes in seinen Ohren verklingen hören. Es klang fast menschlich. Aber auch nicht ganz. Eine lange Zeit verstrich, bis der selbsternannte Xenobiologe sich von der Borke des umgestürzten Baumstammes löste und auf wackeligen Beinen den Weg zu seinem Auto antrat. Er hatte keine Beweise für die vergangenen Ereignisse und außer ihm würde wohl kaum jemand daran glauben. Irgendwie erschien es ihm absurd zu versuchen, jemanden von der Existenz dieser Lebewesen zu überzeugen. Vielleicht sollte es auch einfach so bleiben, wie es ist. Noch auf dem Weg beschloß er, sich ein neues Hobby zu suchen. Eventuell etwas, das mit Briefmarken zu tun hatte. ... Comment
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