Samstag, 9. August 2003
Blätter
Kailoi
23:49Uhr | tag: Die Unendlichkeit des Seins
Ich ging den schlammigen Pfad entlang, der mit einer Auswahl an Ziegelsteinen, Brettern und Pappkartonstücken eher lieblos befestigt war. Das Haus, dem ich mich näherte, wirkte aus verschiedenen Gründen beunruhigend. Zum einen lag diese Wirkung in dessen Architektur an sich, auch oder gerade weil es sehr unwahrscheinlich war, dass dieses Bauwerk je in irgendeiner Verbindung zu einem Architekten mit einem Bauplan gestanden haben konnte. Diese Hütte war eine Sammlung von allem, aus dem man ein normales Haus bauen konnte, nur waren die einzelnen Teile nicht sehr sinnvoll aneinandergefügt. Die zahlreichen Schwachstellen bei dessen Errichtung hatte dessen Erbauer mit einer Vielzahl beliebig zusammengesuchter Gegenstände geflickt. Es kündete von dem halbherzigen Wunsch, eine grobe Unterscheidung zwischen Drinnen und Draußen herzustellen. Das gesamte Gefüge wirkte sehr luftdurchlässig, ein Windhauch hätte es vermutlich umgehend zerstört. Aber Wind gab es hier nicht. Nur feuchtheiße Luft. Überall waren Dinge aufgehängt. Einige getrocknete Kräuter, Stoffbeutelchen, einige Alltagsgegenstände und kleine Puppen, die aus Diesem und Jenem hergestellt worden waren. Ich war etwa eine Stunde lang von der letzten Siedlung aus gefahren, auf der einzigen, geraden Straße, die durch dichten tropischen Regenwald führte. Der freundliche Mann in dem kleinen Laden hatte mir gesagt, ich solle Zigaretten mitnehmen und hatte die entsprechende Marke ausgewählt. Eine Flasche mit Feuerwasser gehörte auch noch zu der Zeremonie. Welche Sorte oder Marke, ließ er offen, deutete aber an, dass die teureren Sachen bessere Ergebnisse hervorbrachten. Ich ging also mit einer dünnen, rosafarbenen Plastiktüte in Richtung des Mannes, der mir das Leben retten sollte.
Um die Hütte herum waren keine Bäume. Sicherlich waren da mal welche gewesen, waren aber zur Gewinnung von Feuerholz gefällt worden. Auf der Lichtung, die auf diese Weise entstanden war, lag Müll, Schrott und anderer Unrat zerstreut. Dazwischen scharten einige Hühner herum. „Entrez, monsieur!“ Im Inneren der Hütte war das Gestaltungskonzept des Außenbereiches fortgeführt worden. Man war umgeben von einer unüberschaubaren Zahl von Dingen, in deren Anordnung man geneigt war, ein System zu erkennen. Auch, wenn es nicht wirklich greifbar war. Er wies mir einen Platz auf einem Holzstuhl zu, dessen Lehne mit Hühnerfedern und Knochenketten behängt war. Er setzte sich auf etwas, dass einmal ein Ohrensessel gewesen war, bevor es in die spärliche Version eines Throns umgebaut worden war. Eine Weile lang sah er mich nur an, dieses Mal mit einem ruhigen Blick. Ich hatte so gut wie keine Ahnung, was mich nun erwartete. Er lächelte schließlich und zeigte auf eine große Schale mit flachem Boden, auf dem einige Zeichen aufgemalt waren. Ich begriff und legte die Zigaretten und den Alkohol hinein. Er lächelte erneut. Aus einer nicht erkennbaren Nische seines Throns nahm er zwei halbwegs saubere Gläser hervor und platzierte sie vor mir auf dem kleinen Tisch, der zwischen uns stand. Eine weitere Pause entstand bis ich entschloss, die Flasche zu öffnen und etwas von dem Rum in das eine Glas füllte. Ich stellte es ihm hin. Sein Blick wandte sich dem zweiten Glas zu. Ich erklärte ihm, dass ich später noch zurückfahren müsse. Er aber bestand darauf, dass ich auch etwas trank. „Ceremony work like that.”, erklärte er mir und ich tat so, als würde ich verstehen. Ich öffnete das Päckchen mit den Zigaretten, zog eine heraus und bot sie ihm an. „Gracias.“ Er sprach etwas, das ich für eine Zauberformel hielt, über den Gläsern aus. Dann tranken wir. Er wies mich an, die Gläser erneut zu füllen. Nach dem dritten Glas lehnte er sich über den Tisch und fasste an meine Stirn. Er schloss die Augen und murmelte, als würde er etwas lesen. Zwei weitere Gläser leerte er. Ich hatte ihn davon überzeugt, dass ich nichts mehr trinken dürfe. „Welke Land kommst Du?“ „Germany“ „Ahhhhh!“ Er kicherte. „Ick verbindet jetz mit Geist. Tahela. Mein Freunt.“ „Ich komme aus einem speziellen Grund.“ „Weiß. Du ist krank sehr schwer. Tahela sagt. Mein Freunt.“ Er grinste mich an. Meine offensichtliche Überraschung amüsierte ihn scheinbar sehr. „Du smoke.“ „Ich...ich habe vor einer Weile aufgehört.“ Er verzog das Gesicht wie jemand, der zu gut gelaunt ist, um glaubhaft beleidigt zu wirken. „Du smoke, Tahela sagt. Mein Freunt.“ Mit einem Seufzer nahm ich eine von den Zigaretten. Der Tabak schmeckte scheußlich bitter und war ziemlich stark. Mein Husten genügte ihm erneut zu Ausbrüchen schelmischer Freude. Ein weiteres Glas, noch großzügiger gefüllt als die vorherigen. „Kann der Geist mir helfen?“, wand ich mich durch zu fragen. Er wirkte erst kurz ernsthaft empört, dann fand er seine gute Laune wieder. Er holte eine Schachtel hervor, in der sich eine Menge Kleinkram befand. Er nahm etwas heraus, scheinbar wahllos. Ein kleines Bündel getrockneter Blätter. Er besprach sie mit weiteren Zauberformeln, bließ etwas Zigarettenrauch darüber und gab sie mir. Die Blätter ähnelten denen von Rosensträuchern. Klein und gezackt. „Bon Appetit.“ „Ich soll sie essen?“ „One every day. Good bye.” Plötzlich sackte der Mann zusammen als würde eine ungeheure Spannung von ihm weichen. Einen Moment lang war ich besorgt, doch dann hörte ich ein leises Schnarchen. Auf der Rückfahrt zu meiner Unterkunft steckte ich eines der Blätter in den Mund und zerkaute es. Der Geschmack von Staub, Vanille, Lauch und Menthol ging aus dem zerkauten Blatt hervor. Eine unglaubliche Frische breitete sich von meinem Rachen in den ganzen Körper aus. Und der Tag ging seinem Ende entgegen. ... Comment
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