Die Sache mit den Kornkreisen
Freitag, 28. Januar 2005
Die Sache mit den Kornkreisen

Womit es anfing? Eigentlich fing es gar nicht richtig an, plötzlich waren sie einfach da. Es war dieser heiße Sommer, der Sommer, in dem sich alle Nachbarinnen, selbst die letzte Stubenhockerin, schon rot und braun gebrannt hatten auf ihren alten Sonnenliegen, die man bereits zu Ostern aus dem Schuppen geholt hatte. Als dann Ende Mai bereits die Erdbeerernte zur Hitzeschlacht wurde, als selbst der langmütigste polnische Erntehelfer nur noch hechelnd im Schatten der erdbeerförmigen Verkaufsbuden lag und in den blanken Himmel blinzelte, räumte man die Liegen zurück in den Schuppen und stürmte in die Baumärkte, um Planschbecken, Pavillons und Rasensprenger zu erstehen. Erst staunte, dann stöhnte man, die Landwirte nölten wie jedes Jahr wegen ihrer Ernte. Wie routinierte Regionalligaveteranen wussten sie bereits vor dem Spiel alle Widrigkeiten aufzuzählen, die ihnen auch dieses Jahr den satten Ertrag verderben würden. Die ihnen mindestens ihren schmalen Gewinn, im Prinzip aber gleich die ganze Existenz rauben und sie endgültig zu den ersten Opfern der rücksichtlosen Agrarbürokratie in Brüssel stempeln würden. An den frisch geweißten Zäunen lehnten sie und führten ihre da-sachste-auch-was-lastigen Gespräche über alle Neuigkeiten, die man aus dem Landwirtschaftlichen Wochenblatt und aus anderen Zaungesprächen gesammelt hatte, fächelte sich die staubige Luft mit braunen Mützen zu, schwadronierte über die Subvention von Brachflächen, ignorante Verbaucherschutzminsterinnen und den neuen Case-Traktor. [read on]

Erst kamen die Nachbarn, die Journalisten etwas später, dann die Leute aus der Gegend, schließlich kamen alle. Aber ganz zuerst – und wenn überhaupt, könnte man dies als den Anfang bezeichnen – ganz zuerst kam Ingo Hoffmeister. Er saß bei N Dicken Wiebusch an der Theke und starrte auf seine Abzüge. Ingo Hoffmeister war Pilot, zumindest etwas Ähnliches. Sein Architekturbüro hatte Anfang der Achtziger drei moderne Wohnplatten in den Himmel am Rand der Gemeinde gezaubert, in denen sich seitdem Aussiedler, Arbeitslose und Arbeiter der verschiedenen Möbelfabriken zusammenkuschelten. Hoffmeister bekam den Auftrag für den Bau des neuen Rathauses, stellte eine tüchtige Vertretung ein, kaufte sich einen Porsche und ein Ultraleichtflugzeug. Seitdem gab es fast keinen klaren Tag im Jahr, an dem der Himmel nicht brummte. Ingo Hoffmeister hatte beschlossen, die gesamte Gegend fliegerisch zu erschließen und besorgte sich die Genehmigung, Luftbilder machen und verkaufen zu dürfen. Jedes Jahr pünktlich zu Weihnachten lag in der Buchhandlung neben dem Kino sein neuer Luftbildkalender aus, endlose Variationen des Themas „Ländliche Provinz von oben“. Der Abzug, den er an dem frühen Abend dem Dicken Wiebusch auf den Tresen legte, stammte von seinem letzten Streifzug. Er trank einen großen Schluck seiner Berliner Weiße und legte seinen langen Architektenzeigefinger auf das Bild. „Wiebusch“, sagte er, „was siehst du da?“ „Eins von ihrn Fotos“, gab Wiebusch zurück, ohne richtig hinzusehen. „Das isn Foto von hier, Wiebusch, direkt von drüben überm Kamp.“ „Hab ich mir gedacht“, sagte Wiebusch, „die Fotos sind doch alle ausse Gegend, oder nich?“ „Wiebusch, wem gehört der Acker direkt aufm Kamp?“ fragte Hoffmeister und drückte seinen Finger noch stärker direkt auf einen Fleck auf dem Foto. „Aufm Kamp? Das meiste Wilmsmann. Was is denn?“ „Na das! Guck doch mal!“ Hoffmeister nahm das Foto vom Tisch und hielt es Wiebusch direkt vor das Gesicht. Auf dem Bild, am rechten oberen Rand, wo sich der Flickenteppich gelber und grüner Felder über einen Hügel zog, war ein grauer Schatten zu erkennen. „<a name="wiebusch">Wiebusch</a>, erkennste nich, was das is?“ „Wenn se mich so direkt fragen, Herr Hoffmeister, würd ich glatt tippen, dass das n Schatten is.“ „Mann, kuck doch mal richtig hin!“ Hoffmeister hielt dem Wirt das Foto noch dichter vor das Gesicht. „Das ist ein Kornkreis!“ „N was?“ „Kornkreis! Ich hab so was schon mal inner Zeitung gesehen. Unerklärliche Phänomene! Geometrische, meist kreisförmige Figuren in Getreidefeldern. Unerklärliche Botschaften einer fremden Intelligenz womöglich!“ „Wollnse noch ne Weiße, oder is besser Schluss für heute?“ fragte N Dicken Wiebusch und kratzte sich am Kopf. „Das wo der Schatten drauf is, is übrigens nich Wilmsmann seins. Das is Grundmeiers Wintergerste.“ „Kenn ich gar nicht. Wo finde ich den denn?“ „Bis vorn paar Jahren immer hier, inner Kneipe. Aber inzwischen säufter allein zu Hause. Kein Geld, Frau weg, Sohn n Riesenarschloch, lässt den Alten nich mehr raus. Die wohn’ drüben am Schmidtwald. Was nu, `n Getränk oder nich...?“ Aber Hoffmeister war schon aus der Gaststube gestürmt.

Irgendwann muss es mal eine Zeit gegeben haben, in der Landwirtschaft sich noch gelohnt hat. Eine Zeit, in der rotwangige, wohlgenährte Bauern Wagenladungen besten Korns in ihre Scheunen fuhren, die Ställe voller preisgekrönter Zuchtbullen hatten und auf den Märkten und im Großhandel jeden Preis bekamen, den sie verlangten. Dann kam der Dreißigjährige Krieg und es ging eigentlich nur noch bergab. Nur in der kurzen Periode, als die Kriege in Mitteleuropa mit luftgestützten Waffen geführt wurden und die Landbevölkerung staunend den grauen Punkten am Himmel zusah während die Städter brannten, hatten die Bauern für eine Weile das Gefühl, besser dazustehen als der Rest. Zumal die Schweinepreise stabil und die Arbeitskräfte billig waren. Aber schnell einigte man sich über die Schwachsinnigkeit solcher Kriege in der unmittelbaren Umgebung und die Bauern wurden mit Subventionen ruhig gestellt. Die Landbevölkerung arrangierte sich ganz unterschiedlich mit dieser neuen Welt. Die einen, wie Wilmsmanns Vater Heinrich, bauten ihre Höfe zu riesigen Schweinemastbetrieben aus, pachteten und kauften alles Ackerland, das zur Verfügung stand. Andere, wie Martin Grundmeiers Schwiegervater Jürgen Bachmeier, machten einfach weiter wie ihre Vorfahren und sahen zu, dass sie schnell genug den Hof abgaben. Als Martin Grundmeier den Betrieb seines Schwiegervaters übernahm, hatte er vier Hektar eigenes und drei Hektar Pachtland zu bestellen, dazu ein Dutzend Kühe, ein paar Schweine, Hühner, Enten und zwei Pfauen, die sich seine Braut zur Hochzeit gewünscht hatte. Dann bekam Ecki, der Fliesenleger, einen Montagejob in Österreich und Judith, Martin Grundmeiers Frau, ging mit. Eines Tages, als Martin aufwachte, fand er das Bett neben sich kalt und leer, auf dem Boden einen Zettel mit ein paar lauwarmen Zeilen über unerfüllte Sehnsüchte und Dankbarkeit trotz allem. Man schrieb die siebziger Jahre, Judith war fasziniert von den zahlreichen Aussteigergeschichten, die sie in ihren Illustrierten las und sie hatte einfach keine Lust mehr, sich mit den Nachbarinnen über Backrezepte und die schlechten Zeiten zu unterhalten. Ecki Landwehr kannte sie noch aus der Volksschule. Als er mit seinem Meister zusammen Grundmeiers Milchküche neu verflieste, kam er mit Judith über alte Zeiten ins Plaudern, nach Feierabend blieb Ecki noch zum Abendbrot. Martin war mit ihrem Sohn Sven zur Messe gefahren, um sich eine Dreschmaschine anzuschauen und so blieb Ecki gleich über Nacht. Zwei Monate später hauten sie ab. Zwar hatte Martin vorher schon gut getrunken, doch gab es in den nächsten Wochen, Monaten und schließlich Jahren kein Halten mehr. Grundmeier hatte seine Frau geliebt, sie trotz seiner gelegentlichen Abstürze nie geschlagen und ihr im Rahmen seiner Möglichkeiten alle Wünsche erfüllt. Allerdings waren seine Möglichkeiten äußerst beschränkt. Der Hof warf nicht viel ab. Das bisschen Geld, das reinkam, investierte Martin recht unglücklich in neue, viel zu große Maschinen. Zudem hatte er ein sonderbares Talent darin, falsche Entscheidungen zu treffen. Wenn die anderen das Heu einholten, wartete er noch zwei Tage und kassierte prompt einen Regenschauer. Er setzte auf die falsche Rinderrasse, kaufte die minderwertigste Getreidesaat und pachtete das feuchteste Land. Als Judith weg war und er immer öfter beim Dicken Wiebusch versackte, wurde alles nur noch schlimmer. Zu seinem mangelnden landwirtschaftlichen Gespür kam nun die Schlampigkeit des Säufers. Er versäumte es, rechtzeitig Saatgut zu kaufen, sähte zu spät, erntete zu früh oder gar nicht, fuhr seine teure neue Presse zu Schrott und musste seine Dreschmaschine verkaufen, um die Reparatur zu bezahlen. Was er sich lieh, kam kaputt zum Besitzer zurück. Sven entwickelte sich in der Zwischenzeit zum regelrechten Kotzbrocken, der von Martins Schwiegermutter mit fetter Nahrung und Hass gegen seinen Vater gefüttert wurde. Natürlich gaben die alten Bachmeiers allein Martin die Schuld an Judiths Ausbruch. Da sie aber offiziell noch verheiratet waren und Martin schon seit Jahren den Hof bewirtschaftete, mussten sie die Anwesenheit des ungeliebten Schwiegersohns wohl oder übel akzeptieren. Als dreißig Jahre nach Judiths Verschwinden die Kornkreise kamen, war der Grundmeier-Hof vollkommen heruntergewirtschaftet, die Familie heillos zerstritten. Martin weigerte sich, die Scheidung einzureichen, die Alten hetzten Sven gegen den Vater auf und der Vater, inzwischen selbst alt geworden, soff alleine hinter seiner Scheune. Manchmal, wenn Sven betrunken von einer Feier nach Hause kam, ging er in Martins Schlafzimmer und verprügelte ihn, bis er um Gnade wimmerte.

Es waren drei nebeneinander liegende, vollkommen symmetrische Kreise, die durch drei schmale Pfade zu einem gleichseitigen Dreieck verbunden waren. Die Gerste war platt zu Boden gedrückt, als hätte jemand die Halme einzeln langsam zur Seite gebogen und dann am auf der Erde befestigt. Die Figur erstreckte sich fast über die ganze Breite des Feldes. Des Feldes, über dem der Himmel brummte. „Brumm“ machte es und leise „Klick“, immer wenn Ingo Hoffmeister seine Kamera auslöste. Seit einer halben Stunde zog er über dem Feld seine Kreise und dokumentierte die mysteriöse Erscheinung. Am Wegrand stand reichlich verloren Martin Grundmeier. Er hatte seine braune Mütze in der Hand und schwitzte unter der Sonne. „Was fürn Scheiß“, murmelte er und „ach komm...“ Martin Grundmeier sah bleich aus, ein weißes, rundes Mondgesicht unter einer verwitterten Glatze, auf der sich nur vereinzelt einige Haarbüschel zeigten. Auf seinen Wangen waren einzelne hektische Flecken zu erkennen, klar konturierte, aber zerklüftete rote Inseln in einem Ozean aus weißer Hilflosigkeit. Niemand wusste, was in diesem armen, runden Kopf vor sich ging. Er war ein Idiot, dem die Frau abgehauen war, der mit seinem Sohn um die Wette soff und sich anschließend von ihm verprügeln ließ. Hatte jemals jemand Martin Grundmeier lachen sehn? Nicht dieses hilflose Grinsen, wenn er merkte, dass er wieder einmal hochgenommen wurde von den Nachbarn und auch nicht das zerknirschte Lächeln, wenn er etwas, was er sich geliehen hatte, kaputt zurückbrachte unter seltsamen Ausreden, die so erbärmlich waren, dass so ähnlich es sich wohl tatsächlich abgespielt haben musste. Dass er mit der neuen Motorsense von Sieker im Kuhdraht hängen geblieben und vor Schreck wegen des leichten Stromschlags in die Tränke gefallen war, mitsamt der Sense. Ja, dann konnte er schon lächeln in seiner erbärmlichen Unsicherheit, den Mund zu einer Grimasse verziehen, die ihm wohl erträglicher erschien als sich einfach nur die Jacke über den kleinen runden Kopf zu ziehen und zu heulen, weil er einfach dümmer war als alle anderen. Lächelte, damit er nicht doch heulen musste wie ganz früher in der Jugend, bevor er Judith kennen lernte, die runde Judith Bachmeier. Die eine ganz ansehnliche Partie war, eigentlich, wenn sie nur nicht so fett gewesen wäre. Und so nahm sie ihn bis Ecki kam und sie brachten sogar ein Kind zustande und eine Weile hatte er geglaubt, der liebe Gott hätte nun ein Erbarmen mit ihm. Dem dummen Martin, wie er in der Schule nur genannt wurde. Er hatte sich an den Feldrand gesetzt und starrte auf das Stück Land, dass ihm wahrscheinlich mehr gebracht hätte, wenn er es als Brachland angemeldet hätte. Da gab es Gelder vom Staat für wegen Umweltschutz und der ganzen Bodenbrüter, die sich da ansiedeln könnten. Aber Land einfach so liegen zu lassen, das brachte er nicht fertig. Da musste er immer an seinen Vater, den Landarbeiter Kurt Grundmeier denken, wie der ihn früher einmal grün und blau geschlagen hatte, als er – von den Nachbarjungs angestachelt – einmal gefragt hatte, ob man nicht auf der Streuobstwiese, wo die alten Birnen gerade weggemacht worden waren, nicht einfach kurzes Gras wachsen lassen konnte und da Fußballspielen... Land, du dumme Göre, wird bewirtschaftet, was haben wir denn schon, außer dem Stückchen Wiese, schreibs dir hinter deine blöden Segelohren.

Wer tat so was? Das Feld war schmal und länglich, kein halber Hektar, und ein guter Teil der Gerste war nun flachgelegt von einem... etwas... Es waren keine außergewöhnlichen Spuren zu erkennen, keine Reifenspuren oder Trampelpfade, einfach nur die Kreise und die sauber platt gelegten Pfade dazwischen. Und dann dieser Hoffmeister, der wie ein aufgescheuchtes Huhn in seine Deele gestürmt war, als er gerade von seinem Mittagsschlaf aufgestanden war und ihn anschrie, er müsse sofort mitkommen oben aufn Hügel aber das Feld nicht betreten und dann war der auch schon wieder weg, wohl um sein Flugzeug zu holen, Gott weiß woher. Und noch bevor er ein paar Kräuterschnäpse zum Aufwachen getrunken und seinem Schwiegervater gesagt hatte, dass er mal weg müsse, brummte es schon über ihm und er beeilte sich, den Traktor anzulassen, denn Auto fahren, das durfte er schon lang nicht mehr. Und wie er da so saß am Feldrand dachte er, wie er damals im späten Herbst mit Judith an eben diesem Ort gestanden hatte und sie zusammen einen Drachen steigen ließen. Den hatte er ihr gebaut, ganz heimlich, mit Paketschnur und altem Leinen, das ihm seine Oma gegeben hatte. Sie hatten auf dem Stoppelacker von Judiths Vater gestanden, hatten dem Drachen zugeschaut, wie er im perfekten Wind über den Feldern stand und er hatte das Gefühl gehabt, dass alles ganz genauso war, wie im Himmel. Und da hatte er das letzte Mal vor lauter Glück gelacht.

Mit Ingo Hoffmeisters Flug über das Feld 'Auf dem Kamp', mit einem Reigen gestochen scharfer Luftbilder der seltsamen geometrischen Figur in Grundmeiers Wintergerste, mit dem Hang des Architekten für ausufernde Spekulationen und seinen ausgezeichneten Kontakten zur örtlichen Presse, hätte die Sache mit den Kornkreisen eigentlich ihren natürlichen Lauf nehmen sollen: Fotos im Anzeiger, Regionalpresse vielleicht, und je nach Nachrichtenlage ein wenig TV-Berichterstattung im Sommerloch. Doch dann wurde ein winziges Leck in der Benzinleitung von Hoffmeisters Ultraleichtflieger zu einem ausgewachsenen Loch, durch das sich das Benzin in der Wärme des Hochsommerabends auf der Außenhaut des Fliegers und auf dem Motor verteilte und Ingo Hoffmeister starb in jenem Feuerball, der kurz zuvor sein Flugzeug gewesen war. Martin Grundmeiers Gesicht verkohlte fast bis zur Unkenntlichkeit unter einer auf dem Feld niedergehenden brennenden Tragfläche, doch er starb nicht. Und weil er nicht starb und sein Traktor unbeschädigt am Feldrand stand, schaffte es Grundmeier nach einigen Stunden, auf die Füße zu kommen, bis nach Hause zu fahren und die Notrufnummer zu wählen. Als er allerdings zu sprechen beginnen wollte, versagte ihm die Stimme und er sackte dort, am Telefontischchen in der Stube, den Hörer an den Fetzen seines rechten Ohres klebend, in sich zusammen. So fand ihn wenig später sein Sohn. Und eigentlich fing erst hier, mit dem vom Schreck verzerrten Gesicht von Sven Grundmeier und seinem Anruf bei der Polizei, die Geschichte von den Kornkreisen an. Denn von diesem Zeitpunkt an würde die Rekonstruktion der bisherigen Geschehnisse auf den wirren Angaben eines tumben Kneipenwirtes, dem stummen, flehenden Blick eines vor sich hin siechenden Brandopfers und den großtuerischen Schilderungen von Sven Grundmeier fußen müssen. Es blieb viel Platz für Spekulationen, Platz genug für die Fernsehteams, die erst eine knappe Woche später anrücken würden und von da an täglich mehrere Human-Interest-Magazine mit der Geschichte zu füllen hatten.

Die rauchenden Reste von Hoffmeisters Flugzeug wurden vom Piloten des Rettungshubschraubers entdeckt, der Martin Grundmeier in das Schwerbrandverletztenzentrum der Universitätsklinik bringen sollte und so versammelte sich noch am späten Abend die gesamte Nachbarschaft oben 'Auf dem Kamp', um Polizei und Feuerwehr beim Löschen des Flugzeugswracks und der Bergung der verkohlten Leiche von Ingo Hoffmeister zuzuschauen. Etwas abseits fand man mitten in der Nacht Hoffmeisters ramponierte EOS 1D. Zusammen mit einem silbernen Zigarettenetui und seiner angekohlten Brieftasche wurde sie Hoffmeisters Witwe übergeben. Und erst als Hoffmeisters Sohn Felix zwei Tage später die Speicherkarte der Kamera überprüfte, sah er die Kornkreise. Auf dem Feld war nichts mehr davon zu sehen unter Hunderten von Stiefelabdrücken und den tiefen Spuren der Bergungsfahrzeuge.

Judith Grundmeier las nicht sehr häufig in der Zeitung, das Lesen der fremden Sprache fiel ihr immer noch schwer. Als sie aber die Slovenske Novice am Kiosk sah, kaufte sie sie sofort. Denn das Haus, das auf der Titelseite neben einem seltsamen Muster abgebildet war, kannte sie. Es war ihr Elternhaus, auf der Titelseite einer slowenischen Boulevardzeitung. Der Artikel war mit „Teufelskreise“ überschrieben. Ohne sich um ihre weiteren Einkäufe zu kümmern, stieg sie in den Bus, der sie zu ihrer Wohnung an der Liebknechtova ulica brachte. Karl war nicht zu Hause, er nutzte den freien Samstag, um ein paar Besorgungen für den Laden zu machen. Sie brauchte fast zwei Stunden, bis sei den Text vollständig entziffert hatte, packte ein paar Sachen und schrieb ihrem Lebensgefährten einen Zettel. Sie hatte im Laufe ihres Lebens Übung darin gewonnen, solche Zettel zu schreiben. In der Küche stand noch das Geschirr vom Frühstück, ihr Eierbecher, Karls Yoghurtschale, doch sie ließ alles stehen. Als sie am Gaderobenspiegel die alte, rundliche Frau an sich vorbeigehen sah, zögerte sie kurz. Sie hatte in den ersten Jahren mehrere Briefe nach Hause geschickt, meistens im Mai, wenn Sven Geburtstag hatte. Sie war kilometerweit gefahren, um nicht durch den Poststempel auf dem Brief verraten zu werden. Ihre Briefe waren stets kurz. Auch der, den sie Ecki auf den Tisch gelegt hatte, bevor sie ihn verließ. Sie sorgte dafür, dass sie im Winter bei jemandem ein paar Monate lang unterkam, im Sommer fand sie überall auf dem Land Unterkunft und Arbeit. Sie hatte etwas abgenommen in den letzten Jahren und obwohl sie inzwischen über sechzig Jahre alt war, mochte sie das, was sie im Spiegel sah. Sie hatte Karl vor fünfzehn Jahren kennen gelernt. Dass er Slowene war, störte sie nicht und ihn störte es nicht, dass sie ihn nicht heiraten wollte. Damals war sie das einzige und letzte Mal in der Nähe ihres Elternhauses gewesen, um im Einwohnermeldeamt ihren Reisepass zu verlängern. Niemand hatte sie erkannt. Warum musste sie jetzt zurück? Auf dem Bahnhof ging sie in eine Buchhandlung und suchte in den deutschen Zeitungen nach weiteren Berichten. In einer sah sie das verbrannte Gesicht ihres Ehemannes, der seit dem mysteriösen Unglück, wie sie es nannten, nicht mehr gesprochen hatte. Mitten in dem von dicken Verbänden eingehüllten Gesichtsrest war deutlich sein hilfloses, unsicheres Lächeln zu erkennen, als wolle er sich für seinen Zustand entschuldigen. Der Zug von Maribor nach Klagenfurth ging in einer Stunde. Judith kaufte einen ganzen Stapel Zeitungen und eine Zugfahrkarte, setzte sich in ein noch leeres Abteil und begann zu lesen.

Da waren Kornkreise gewesen auf Martins Feld gewesen, drei Stück genau gesagt, die durch Linien miteinander verbunden waren. Und es hatte diesen Unfall gegeben, bei dem ein Hobbypilot ums Leben gekommen und Martin schwer verletzt worden war. Ihr Sohn kam in den Berichten, in denen er erwähnt wurde, nicht gut weg. Judith graute bei dem Gedanken, dass die Fernsehberichte unter Umständen noch viel entlarvender sein könnten. Sie empfand nichts für diesen grobschlächtigen Burschen, zu dem ihr Sohn in den letzten dreißig Jahren offensichtlich geworden war. Während sie in einer Illustrierten auf ein Foto von ihm starrte, ertappte sie sich bei bei dem Gedanken, dass ihr die Beobachtung der Metamorphose vom tolpatschigen Jungen zum Großmaul mit Stiernacken glücklicherweise erspart geblieben war. 'Glücklicherweise', dieses Wort spukte ihr eine Zeit lang im Kopf herum, irgendwo an der Stelle, wo sie ihr schlechtes Gewissen vermutete. Die Autoren der verschiedenen Artikel hatten mehrere Theorien über den Zusammenhang der Ereignisse. Dabei wurde selbst darüber gestritten, zu welchem Zeitpunkt die Luftbilder entstanden waren. Es gab die Aussage des Kneipenwirtes Wiebusch, dass Hoffmeister bereits seit mehreren Monaten von den Kornkreisen gefaselt hatte, bevor er sich an dem Abend des Unfalls nach dem Besitzer des fraglichen Feldes erkundigt hatte und daraufhin die Wirtschaft verlassen hätte. Also lag es recht nahe, dass die Bilder, die Felix Hoffmeister auf der Speicherkarte gefunden hatte, an diesem Abend, unmittelbar vor dem Unglück entstanden waren. Diese Version wurde allerdings von Sven Grundmeier heftig bestritten. Er schwor Stein und Bein, dass bis zu diesem Abend keine Kornkreise da gewesen wären - „Schließlich inspiziere ich täglich meine Felder!“ - und auch nach den Bergungsarbeiten keine Reste dieser Kreise auf dem weitgehend platt gefahrenen Feld zu sehen waren. Also, so Grundmeiers Folgerung, gab es schlichtweg keine Kreise bis zu dem Zeitpunkt. Die Fotos also eine Fälschung. Soweit seine ersten Angaben. Nach ein paar Tagen allerdings, als er von einem berüchtigten Call-In-Sender mit einer Star-Astrologin zusammengebracht worden war, modifizierte er seine Einschätzung dahingehend, dass die Kornkreise nicht etwa digitale Fälschungen seien, sondern möglicherweise Zeichen einer überirdischen Macht, die allein durch eine Digitalkamera mit besonderen Filtern sichtbar wurden. Tatsächlich wusste Hoffmeisters Witwe von ein paar Abzügen zu berichten, auf denen – sehr klein zwar, aber doch zu erkennen – dieselben Kreise zwei Tage vorher bereits fotografiert worden waren. War der Unfall Hoffmeisters also unter Umständen die Strafe einer fremden Macht für seine Neugier? Die selbst ernannte seriöse Presse ging auf diese Spekulationen zwar nicht weiter ein, aber in den etwas liberaleren Blättern wurde die These mit der überirdischen Komponente breit diskutiert, zumal etwa eine Woche nach dem Unfall und nach den ersten Berichten über die kürzlich aufgetauchten Fotos sich mehrere Einwohner der Gemeinde meldeten, und erzählten, dass sie in der vergangenen Woche ebenfalls seltsame Lichterscheinungen hatten. In einer Gewitternacht schießlich , anderthalb Wochen nachdem Felix Hoffmeister die soeben entdeckten Fotos an die 'Bunte' verkauft hatte, wurden wiederum mehrere Lichterscheinungen im Himmel überm Kamp gesichtet, am frühen Morgen des nächsten Tages lag der alte Grundmeier, Judiths Vater, tot in seinem Bett. Er war also tot.

(wird fortgesetzt...)

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Eskalation deluxe

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Mannmannmannn! Da kommt mir aber einiges bekannt vor. Ist ja fast ein eins zu eins Abklatsch des Werfer Bruchs, sogar die Namen kommen einem bekannt vor;-). Und den Fotokalender gibt es wirklich, der pilotgewordene Architekt ist aber künstlerische Freiheit???
Da weiß man, was den Herrn Albtraumjäger in den Weihnachtstagen so inspiriert hat... - aber dein landwirtschaftliches Fachwissen solltest du dringend überprüfen: Dreschmaschinen werden eigentlich nicht mehr einzeln gebaut, die gibt es jetzt als Multifunktionsgeräte und heißen dann Mähdrescher... - und das mit dem Lamentieren über Ernteausfälle, sicher in Ansätzen richtig...
Bin aber schon sehr gespannt wie es weitergeht. Unter "Fortsetzung" habe ich aber nicht mehr gefunden als unter der älteren Eintragung. Aber es geht doch weiter - oder?

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die fortsetzung ist in arbeit, ja.
in sachen landwirtschaftliche expertise: grundsätzlich: ja, ist bei mir garantiert noch verbesserungsfähig. aber: die passage bezog sich eigentlich auf die zeit, kurz nachdem die frau weg war. und in der zeit (anfang der 70er) gab es meiner vermutung nach noch diese maschinen, zumindest in erzählungen meines werten herrn vaters aus den späten sechzigern kommen sie noch vor. als alternative für den größenwahnsinnigen kleinbauern, der aber jeden technikschrott kauft, der für sein bisschen geld zu haben ist. die (gern auch gebraucht gekaufte) dreschmaschine war in dieser zeit meiner interpretation nach der ford granada des kleinbauern. dass sie sich neue modelle auf der messe anschauen wollen, ist vor diesem hintergrund vielleicht tatsächlich eher unrealistisch, vielleicht ändere ich das noch.

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Endlich mal wieder eine schöne, einfallsreiche Geschichte. Bin gespannt, wie es weitergeht...

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ach, vielen dank, aber man weiß ja, wie so etwas ausgeht. dann kommt man nicht weiter und dann is schon wieder weihnachten... da haben Sie mir wirklich was voraus. der herr tentakel geht ja ganz gut voran momentan, der wird bestimmt genauso konsequent fertig wie die fnavtalla-sache.

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Vielleicht bin ich ja zu sparsam mit dem äußerst motivierenden und kontinuierlichen Lob, dass mir von Ihrer Seite so regelmäßig beschert wird - ob nun gerechtfertigt, oder nicht. Da werde ich mir mal Mühe geben, etwas mehr positives Feedback zu produzieren.
Was das "Erfolgsrezept" angeht: Ab einem gewissen Punkt gilt es, die eigenen Ansprüche an Qualität und Originalität zurückzuschrauben und eine mechanisch erscheinende Kontinuität zu erzwingen. Ich sag mir immer: Ins Reine schreiben kannstes mit vierzig auch noch. Schreiben musste, solange der Kopp noch funktioniert...
;)

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Das wird ja immer interessanter hier.

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ich bin auch schon ganz aufgeregt, wies weitergeht :)

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