Das Floss - Rückkehr zur Abreise
Donnerstag, 16. Februar 2006
Das Floss - Rückkehr zur Abreise

Wenn die Fenster erloschen sind, ein leiser Regen die Letzten in die Häuser zwingt und der Wind den Abfall der Straße vor sich her treibt, träfe man auf eine äußerst merkwürdige Gesellschaft – unten, am Fluss – trieben Feuchtigkeit und Kälte einen nicht zurück ins Haus oder die Wohnung, ins Schlafzimmer oder auf die provisorische Schlafcouch, Hauptsache, ein Dach und etwas Wärme in dieser Nacht. Die Gestalten am Fluss stört dies wenig, tatsächlich sind Zeitpunkt und Witterung ihrer Treffen mit Bedacht so gewählt, dass niemand sie so, scheinbar schweigsam stehend, jeder und jede ganz in sich selbst versunken, anträfe oder gar störe. Ihre Zahl ist schwer zu schätzen; Bäume, Weiden vor allem, stehen zwischen Ihnen und um sie herum, und auch sie, die dort stehen, kennen ihre Zahl nicht genau, können sich kaum sehen zu dieser Zeit an diesem Ort. Ein Autoscheinwerfer oder das Licht einer Lampe nähme diesem Bild schnell die romantisch- mystische Attitüde, die es durch die Umstände des Zusammenkommens nur zu leicht erhält. Das kurz aufblitzende Licht eines Feuerzeugs, das für kurze Zeit – geschickt abgedeckt – dem kalten Wind trotzt, deutet den wahren Anblick der Gruppe an, der sich bei hellem Tageslicht dem Spaziergänger böte.

Der Zweck dieser Zusammenkunft ist jedes Mal derselbe: Man baut ein Floß. Aus Weidenholz und fester Schnur, mit einigen Nägeln, Teer und Tuch wird ein großes Holzfloß gefertigt, das Platz für all jene bietet, die sich hier regelmäßig versammeln. Und doch ist es jedes Mal ein anderes. Genaue Form und Farbe des Gefährts wechseln ebenso wie Abfahrtszeit und Besatzung. Und immer steht eine andere der grauen Gestalten am Ruder, bestimmt die Fahrtziel und Fahrtrichtung.

Nach einiger Zeit der Sammlung und des Schweigens erhebt jemand die Stimme: „Ich habe ein Floß gebaut.“

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Das alles hatte ich nicht gewusst. Ein Freund hatte mich mitgenommen zum Fluss. Es war ihm gelungen, mich zu überreden, ohne vieles zu erklären. Ich erwartete, dass wir einen langen Spaziergang machen würden, vielleicht eine kleine Wanderung. Den ganzen Winter über war ich besagtem Freund mit meinen Sorgen und Launen wohl hauptsächlich zur Last gefallen. Ich vermutete, dass er einen Rahmen gesucht hatte, um ein ausführliches Gespräch mit mir zu führen - vielleicht auch, um mich aufzufordern, mich endlich zusammenzureißen und meine Probleme anzugehen.

Er empfahl mir, wetterfeste Kleidung, festes Schuhwerk und auch etwas Proviant mitzunehmen.

Mitten im Februar war es bereits Mai geworden. Die Luft hatte an Schärfe verloren und der Geruch von Eis war dem von erwachendem Grün gewichen. Als wir aufbrachen, wurden wir von leisem Regen begleitet, der mehr Erfrischung war, als Hindernis. Meine Vermutung schien sich zu bestätigen, denn wir gingen entlang der Uferbefestigung des Flusses entlang, der unsere Heimatstadt durchzog. Der Weg führte uns an den Stadtrand und darüber hinaus, der gepflasterte Weg wich einem befestigten Pfad aus verdichteten Steinchen.

Wir plauderten während wir so gingen, wenn auch über nichts Bestimmtes oder Ernsthaftes. Ich erwartete nicht mehr als das und es genügte mir zudem, wenn die kommenden Ereignisse sich in diesem Rahmen fortbewegten. Als ich die Frage stellte, ob wir uns auf eine Herberge zubewegten (es war spät geworden und die Dunkelheit begann bereits hereinzubrechen), gab sich der Freund plötzlich rätselhaft. Was genau er sagte, weiß ich heute nicht mehr. Ich erinnere mich nur, dass ich es damals nicht verstand und dies wohl auch so beabsichtigt war.

Dann, plötzlich machten wir halt. Man konnte nicht sagen, dass dieser Ort sich besonders abhob. Der Zeitpunkt für eine Pause erschien mir zwar willkommen, aber schlecht gewählt, da wir bereits an mehreren Bänken vorbeigewandert waren, an denen eine Rast weitaus angebrachter erschienen wäre. So wunderte ich mich nicht, als der Freund über einen halb vermoderten Zaun kletterte und sich daran machte, die dahinter liegende Weide zu überqueren. Eine unbestimmte Unruhe beschlich mich: irgendetwas an der Abgelegenheit dieses Ortes widersprach sich mit der Zielgerichtetheit, mit der sich der andere fortbewegte. Dennoch folgte ich ihm, ja, es gelang mir sogar den Drang zu unterdrücken ihm Fragen zu stellen.

Meine Unruhe wuchs als ich merkte, dass wir plötzlich nicht mehr allein waren. In der zunehmenden Dunkelheit, fernab aller Lichter der Stadt, fielen sie mehr durch das Geräusch ihres Atems oder das Rascheln einer Bewegung auf. Niemand sprach. Erst nach einer Weile war leises Getuschel zu vernehmen, dessen Inhalt sich der Wahrnehmung entzog.

Sicherlich hatte mein Freund meine wachsende Unruhe und Verwirrung bemerkt oder vorausgeahnt. Jedenfalls begann er, ohne, dass ich ihn dazu aufgefordert hatte, einige Dinge preiszugeben.

Er erklärte mir, dass diese Treffen schon seit vielen Jahren stattfänden. Das heißt, so verbesserte er sich, dass sie eine ganze Weile nicht mehr stattgefunden hatten. Erst seit kurzem habe man die zugrunde liegende Idee wiederentdeckt. Und, so fuhr er fast schon philosophisch fort, sehr gute und sehr schlechte Ideen haben es so an sich, dass sie unzerstörbar seien. Das alles hier sei ein recht harmloses Abenteuer. Allein das Geheimnissvolle daran, verleihe der Sache einen besonderen Reiz.

Seine geflüsterten Erläuterungen wurden von lautem Platschen zerrissen. Das Mondlicht, welches sich auf der Wasseroberfläche des Flusses spiegelte, wurde in unzählige Fragmente zerissen. Ich traute mich zu fragen, ob da wer ins Wasser gefallen sei. Doch einen kurzen Moment später sah ich, dass dort etwas Größeres im Wasser trieb. Eine ebene, rechteckige Fläche, die sanft auf- und abwankte. "Ich habe ein Floss gebaut", sagte eine unbekannte Stimme. Es klang weniger wie eine einfache Feststellung, sondern wie der feierliche Anfang eines Rituals. "Auf geht´s, mein Freund", sagte der Freund. Und der Mond enthüllte sein freundliches Grinsen.

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Wenn das Floß auf dem Wasser treibt, mit all den zitternden Gestalten darauf und wenn es dann vorbeischwimmt an den Ruinen alter Lagerhäuser, denken wir über die Sinnlosigkeit nach. Wie oft wir schon den Fluss hinab getrieben sind an all den Bäumen, Häusern, der alten Fabrik, unter den feuchten Brücken hindurch, bis wir dann irgendwo anlegen und uns auf den Rückweg machen. Wie oft sind wir schon an Resten alter Flöße vorbeigetrieben, die wir in kalten Nächten irgendwo am Ufer zurückließen um nach einer Straße zu suchen, wo uns jemand mitnahm. Der, der am Ruder steht, darf reden, ist der einzige der reden darf die ganze Nacht und auch am Morgen, je nachdem, wie lange wir es aushalten auf dem nassen Holz. Und während er redet denken wir über die Sinnlosigkeit nach, hören nur selten richtig hin, denn was soll er uns schon Neues sagen können? Und während irgend jemand Zigaretten spendiert und irgend jemand ablehnt, weil er aufhören will, streifen uns seine Worte wie alte Spinnenweben unter einer Brücke. Wir ziehen die Kapuzen höher. Wir denken an ein warmes Bett. Wir verfluchen den Regen. Und denken: Nächstes Mal.

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... also gestern eine nihilistische Phase gehabt. Naja, schön, dass Du Dich dazu geäußert hast.

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genau. schön.

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