Donnerstag, 22. März 2007
Das Haus am Rand der Gleise
Kailoi
20:44Uhr | tag: Fingeruebungen
Singer hatte die Frage aufgeworfen, ob man nicht eine Geschichte schreiben könne, deren Zusammenhang sich erst am Ende erschließen lässt. Das Leben bestand schließlich auch aus einer losen Abfolge von Ereignissen, die erst im Rückblick - wenn überhaupt - zu einzelnen Episoden oder Entwicklungen zusammengefügt werden konnten. Wie gewohnt war Singer als Letzter eingetroffen, hatte sich mit einer möglichst absurden Ausrede entschuldigt und sich umgehend die Rolle des Wortführers zugesprochen. Dabei hatte er an den Stellen seiner Ausführungen, die er selbst für besonders geistreich hielt, gekünstelt mit dem linken Auge gezwinkert. Ein Gesichtsausdruck der - entgegen aller Absicht - auf Mario eher wie eine Nervenstörung wirkte und der in ihm den Wunsch weckte, Singer am Hals zu packen und zu strangulieren. Diese und andere Kritikpunkte boten den Nährboden für seinen scharfkantigen Zynismus, eben dem Gewächs, das für ihn eine Heilpflanze darstellte, während andere es als Unkraut betrachten mochten Er sah nicht, worin der Reiz einer solchen Geschichte liegen sollte. Eine Erzählung bot eine überschaubare Zahl von Situationen und führte diese von einem Anfang zu einem Ende. Mario fand auch nichts Innovatives daran, den Leser für eine Weile über den Ausgang der Ereignisse im Unklaren zu lassen. Das gehöre vielmehr zum wesentlichen Bestandteil jedes billigen Krimiromans. Johannes saß während des Streitgespräches zwischen seinen beiden Freunden auf einem Stapel von Gartenstühlen, griff gelegentlich zu seiner Rotweinflasche und gab den beiden anderen gedanklich Punkte für Schlagkraft und Treffsicherheit ihrer Argumente. Er hatte es vor längerer Zeit mit albernen Kommentaren versucht, ging zu einer Phase erfolgloser Tiefsinnigkeit über und beschränkte sich mittlerweile auf die Rolle des gelegentlich applaudierenden Ein-Mann-Publikums. Der Sinn dieser Kleingruppe, die sich unregelmäßig im Abstellkeller einer Doppelhaushälfte traf, lag im gemeinsamen Ziel. Die drei Männer unterschiedlichen Alters hatten beschlossen, Schriftsteller zu werden. Eine weitere Gemeinsamkeit bestand darin, dass keiner von ihnen bisher etwas Tragfähiges auf die Beine gestellt hatte. So tauschten sie Vorschläge, Bewertungen und Meinungen aus in der Hoffnung, ein göttlicher Funke möge eines Tages vom Himmel auf einen von ihnen fallen und die Energie entfachen, ein beachtliches Werk zu verfassen. Er habe die Idee vermutlich nicht richtig verstanden. Es ginge darum, dass in jeder Erzählung den einzelnen Figuren eine wie auch immer geartete Bedeutung zukam. Taucht eine Person nur am Rande auf oder verschwindet ohne erkennbaren Grund, geht man davon aus, der Autor würde sein Handwerk nicht beherrschen. Die Idee hinter einer solchen Vermischung sei seiner Ansicht nach eine neue Form von Wirklichkeitsnähe, die er bisher nirgendwo gefunden habe. Mario griff eine Flasche aus der obersten Kiste des Stapels, aus dem er seinen Thron errichtet hatte und öffnete sie mit einem perfekt dosierten Schlag an deren Rand. Er habe ihn sehr wohl verstanden. Er wolle Exklusivität erzeugen, indem er Verwirrung stiftete oder vielmehr dem Leser die Sicht vernebelte, indem er den Lauf einer Geschichte mit im Nichts verebbenden Handlungssträngen infizierte. Das letzte Wort unterstrich er, indem er sich der Asche seiner Zigarette im neben ihm stehenden Grill entledigte. Einer plötzlichen Eingebung folgend nahm Johannes sein dickes Notizbuch vom Gartentisch, öffnete es und begann, darin herumzukritzeln. Die Diskussion vor ihm, die kein Ende finden würde und begann, ihn zu langweilen, erforderte eine Intervention. Das Aufkeimen einer Idee hatte in dieser Runde den gleichen Effekt, den ein gefülltes Plastiktütchen bei einem Treffen von Drogensüchtigen hatte: man wusste noch nicht, was drin war, aber es konnte etwas Gutes sein... ... Comment |
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