Dienstag, 17. Juli 2007
Kailoi
14:21Uhr | tag: Fingeruebungen
"Die einzige Reise, von der man nicht mit leeren Händen zurückkehrt, das ist die Reise nach innen. Im Innern gibt es keine Grenzen und keinen Zoll, man kann sogar zu den fernsten Sternen gelangen. Oder an Orten spazierengehen, die nicht mehr existieren, Menschen besuchen, die nicht mehr sind. Sogar Orte aufsuchen, die es nie gegeben hat und vielleicht auch nie geben konnte, aber an denen es mir gutgeht." Amos Oz Er sah zu dem Koffer auf dem obersten Brett des Regals. Das rechte Scharnier war abgebrochen, der schwere Deckel des hölzernen Kastens, der mit dünnem Kunstleder bezogen war, erfüllte nicht mehr die ihm zugedachte Aufgabe, die Reiseschreibmaschine im Inneren beim Transport zu schützen. Die schweren, goldbeschlagenen Sonnenstrahlen des Nachmittags fielen durch das halb geöffnte Fenster. Johannes - oder Han, wie sein Halbfreund Mario ihn aus dem zwanghaften Bedürfnis, einen möglichst originellen Spitznamen für ihn zu finden, nannte - schrieb nicht. In diesem Verhalten unterschied er sich von Mario und ähnelte Singer: Statt vieler Ansätze, die in unzähligen Arbeitsschritten umgeschrieben, verworfen oder ergänzt wurden, ließ er seine Geschichten allein in Gedanken reifen. Im Gegensatz zu Singer fühlte Han sich allerdings nicht schlecht dabei, empfand es nicht als Versäumnis oder Makel, nicht zu schreiben und unternahm auch keine verzweifelten Versuche, dieser Untätigkeit entgegenzuwirken. Eines Tages, davon war er überzeugt, würde die Geburt seiner Geschichten in einer großen, vielleicht schmerzhaften Anstrengung erfolgen. Dieser Prozess würde sich seiner Ansicht nach irgendwie ankündigen. Es würde ein Zeichen geben, eine Veränderung seiner Einstellung, einen Impuls, der eine Kette von Ereignissen zur Folge hätte, an deren Ende der Abschluss aller langwierigen Vorbereitungen stehen würde. Der Baum vor dem Fenster wand sich sanft unter den Berührungen des Windes, um kurz darauf still zu verharren. Licht traf auf die Ebenen von Blattwerk, die erfüllt von Strömen grünen Blutes Energie in Materie wandelten. Wasser trieb durch die Adern des Holzes, Zellen verdoppelten sich und starben, bildeten Schichten nach innen und nach außen. Vielleicht war es an der Zeit. Ein ungewöhnliches Phänomen hatte sich in seine Wahrnehmung eingeschlichen: Han sah aus dem Fenster eines Zuges auf ein Hochhaus und sein Blickwinkel wechselte unvermittelt zu dem eines Menschen, der auf einem Balkon dieses Hochhauses stand, auf die Landschaft hinunterblickte und einen fahrenden Zug sah. So hatte es begonnen. Diese Perspektivsprünge häuften sich im Laufe der Zeit. Sie nahmen weitaus groteskere Formen an, als sich beim Anblick eines Hauses in dessen Inneres zu denken. Wenn er Tiere betrachtete - einen Hund, einen Raben, ein mikroskopisch kleines Insekt - fand er sich für einen Moment in dessen Realitätsausschnitt wieder. Auf diese Weise konnte er Distanzen aller Art überwinden. Die Wurzel dieser neuen Fähigkeit mochte darin begründet liegen, dass er seit langer Zeit bemüht war, andere Sichtweisen zu verstehen. Selbst Argumente, die seinen eigenen Überzeugungen zuwiderliefen, untersuchte er auf den Sinn, der dahinter stecken musste. Der Grundgedanke bestand darin, dass es keinen überlegenen Standpunkt gab. Überlegenheit ist eine Illusion, ein Zaubertrick. Sie basiert auf Täuschung, Ablenkung oder einem Mangel an Informationen. Alles liegt den selben Bedingungen zugrunde, folgt den gleichen Prinzipien. Unterschiede existieren nur in der Form und dem Grad an Komplexität. Johannes war ein Verteidiger aller Standpunkte, jemand, mit dem man nur schwer ein Streitgespräch führen konnte, weil es ihm nicht gelang, auf einer Position zu verharren und diese zu verteidigen. Mario bewertete dieses Verhalten als Feigheit, als Fluchtverhalten. Singer empfand es als verwirrend und interessant zugleich. Nun betrachtete Han die Welt aus fremden Fenstern, mit fremden Augen, die gelegentlich nur aus einer Handvoll simpelster Sinneszellen bestanden. Ein Talent, das einem angehenden Schriftsteller nur zugute kommen konnte. Ob diese Sprünge das ersehnte Zeichen waren, oder ob sie aus dem unterbundenen Schreibreflex resultierten - Phantomgeschichten, gleich einem Phantomschmerz, die das Nichterzählen durch winzige, zusammenhanglose Episoden kompensierten - wusste er nicht. Wie eindeutig würde das Zeichen sein, auf das er wartete? ... Comment
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