Ich habe gerade in einem wissenschaftlichen Text gelesen, dass die Menschen der westlichen Kulturen bis etwa zum Jahr 1880 fast ausschließlich laut gelesen haben. Zwar wurde das stille Lesen bereits im vierten Jahrhundert dokumentiert, wurde allerdings als eigenartige Angewohnheit angesehen.

Galt zu diesen Zeiten noch die Devise, dass nur laut gelesene und fehlerfrei vorgetragene Texte "richtig" gelesen seien, ist die wissenschaftliche Meinung heutzutage genau entgegengesetzt. In einem Interview mit einem Nachrichtensprecher habe ich einmal vor Jahren gehört, dass ihn Leute nach der Sendung auf einige aktuelle Themen ansprechen wollten und er garnicht wusste, wovon sie überhaupt sprachen. Tatsächlich sind beim lauten Vorlesen Textverständnis und Merkfähigkeit stark eingeschränkt.

Ich fand diese Information überraschend. Man muss sich mal die Geräuschkulisse in den Bibliotheken jener Zeit vorstellen und Abends vor dem Einschlafen noch ein oder zwei Kapitel zu lesen dürfte in dem einen oder anderen Ehebett zu einem mahnenden Räuspern geführt haben. Wie viele Blender und Hochstapler mag es zu diesen Zeiten gegeben haben, die sich allein durch die Fähigkeit fehlerfrei vorzulesen als gebildete Leute ausgeben konnten.