Montag, 18. April 2011
Kailoi
17:01Uhr | tag: Fingeruebungen
Die Werkstatt des Meisters glich einem Ausschnitt aus einer anderen Welt. Die lange Straße war voller Neubauten. Schöne Läden aus Glas und Stahl mit Parkplätzen aus glattem, schwarzem Teer und weißen Linien. Alles schien nach einem großen Gesamtkonzept errichtet worden zu sein. Die Werkstatt war dabei aber offenbar vergessen worden. Mein Blick fiel auf die alte Tankstelle. Das Gebäude strahlte den Charme der sechziger Jahre aus. Obwohl aus Stahl und Beton errichtet, war alles voller schwungvoller Konturen, schien leicht zu sein, wenn nicht gar zu schweben. Die Farben des Gebäudes waren jedoch verblichen, die Dichtungen der Fenster porös, das Messing der Zierkanten stumpf und zerkratzt. Zwischen den großen Betonplatten am Boden waren Gräser und Wildkräuter hervorgewachsen. Etwas seitlich standen einige Gebrauchtwagen, die einst in Stand gesetzt, dann aber dem Zahn der Zeit überlassen worden waren. Längst waren die Reifen platt und der Lack unansehnlich. Alles sprach dafür, dass dieser Ort seit langer Zeit verlassen war und in gewisser Weise stimmte das auch. Ich ging zum hinteren Teil der Tankstelle, an der sich zwei große Rolltore befanden. Eines der beiden Tore war halb geöffnet. Aus dem inneren der unbeleuchteten Werkstatt drang ein endloser Strom von Radiomusik. Ich wusste, in welche Richtung ich schauen musste und entdeckte den Meister sofort. Dem ungeübten Betrachter wäre er nicht aufgefallen, denn er saß regungslos neben einem kleinen Campingtisch und hatte die Farbe seiner Werkstatt angenommen. "Na", sagte der Meister. Das war sein gesamter Beitrag zum Gespräch. Während ich mich setzte, schob er mir einen Becher zu, in den er eine teerschwarze, dampfende Flüssigkeit goss. Die Flüssigkeit verströmte einen scharfen, ätzenden Geruch. Ich erzählte ihm von meinem Traum über Glogmonien. Während ich erzählte, erinnerte ich mich an all die schönen Details, die ich mir für dieses sonderbare Land ausgedacht hatte. Ich ließ auch nicht die Stimme in meinem Kopf aus, die ich nach dem Erwachen gehört hatte. Nicht, weil ich mir einen guten Rat oder eine Meinung zu meinem Befinden erhoffte. Ich vermute, ich wollte einfach wissen wie es sich anhört, wenn man dieses Erlebnis einem anderen Menschen erzählt. Normalerweise sah der Meister in eine unbestimmte Ecke des geschlossenen Rolltors. Doch als ich meine Erzählung beendet hatte, sah er mich an. Ich konnte seinem Gesicht keine Gefühlsregung ablesen. Doch allein, dass ich zum ersten Mal seit einer Ewigkeit eine Reaktion in ihm ausgelöst hatte, war beeindruckend. "Holst Du mir mal die Milch aus dem Kühlschrank?" Völlig verdutzt stand ich auf und machte mich auf den Weg zu dem kleinen Korridor, der die Werkstatt, den Laden und das kleine Büro verband. Der Kühlschrank stand in der Ecke des Büros. Wie auf dem gesamten Gelände war auch an diesem Ort die Zeit stehen geblieben. Doch während sich an allen übrigen Stellen die Spuren des Verfalls deutlich zeigten, hob sich dieser Ort durch eine besondere Form von Ordnung hervor. Dieser Raum war nicht Ruine, sondern Museum. Auf dem Schreibtisch stand eine Schreibmaschine, ein Wählscheibentelefon und eine schlanke Vase, in der stets eine frische Blume war. Die Werkstatt des Meisters glich einem menschlichen Körper. Der Verstand dieses Ortes war leider verloren gegangen. Nur das Herz war noch da und schlug immer weiter. Und plötzlich, inmitten dieses vergessenen Ortes verstand ich tausend Dinge. Wie eine Flutwelle durchströmte mich eine Erkenntnis und Tränen schossen mir in die Augen. ... Comment
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