Dies ist eine Replik auf einen offenen Brief, den der Facebook-User Hannes Germann an Frau Merkel und Herrn Gauck zum…
Freitag, 18. September 2015

Dies ist eine Replik auf einen offenen Brief, den der Facebook-User Hannes Germann an Frau Merkel und Herrn Gauck zum Thema der Flüchtlinge in Deutschland geschrieben hat. Ich muss und werde ihn an dieser Stelle nicht verlinken, denn ich greife alle seine Formulierungen im Rahmen dieses Posts wieder auf.

Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass der Autor unrecht hat. In jedem einzelnen Punkt. Ich glaube, dass sein Unbehagen, seine Angst vor der aktuellen Entwicklung ihm den Blick auf die aktuelle Situation verstellen. Darüber hinaus habe ich den Verdacht, dass der Autor hinter seiner Angst vor vielen der von ihm prognostizierten Probleme eigentlich nur seinen Unwillen versteckt, sich diesen Problemen zu stellen. Doch der Reihe nach. Ich habe versucht, zu jedem der Punkte von Hannes Germanns Post eine Gegenmeinung zu schreiben, weil ich es wichtig finde, nicht nur einfach diffus „für“ oder „gegen“ diesen Text zu sein, sondern sich mit den einzelnen Aspekten auseinanderzusetzen. Ich habe seine Punkte ohne Änderunge übernommen, sie allerdings wegen inhaltlicher Stringenz in einer anderen Reihenfolge geordnet und drei Punkte, die im weitesten Sinne die angeblich durch die Flüchtlingseinwanderung steigende Kriminalitätsentwicklung betreffen, zusammengefasst.

Ich habe Angst, weil hier Massen ins Land kommen, die selbst innerhalb ihrer eigenen Religion keinen Frieden halten können, wie soll das dann mit einer hier etablierten Religion möglich sein?

Tut mir leid, aber die „Massen (...) die selbst innerhalb ihrer eigenen Religion keinen Frieden halten können“ ist doch ganz schön – vorsichtig gesagt – pauschal, oder? Bleiben wir mal beim Thema Syrien und gehen wir davon aus, dass mit der Religion der Islam gemeint ist (die Christen werden es ja kaum sein, die wären für die „hier etablierte Religion“ ja eher kein Problem...) Wenn ich mich richtig entsinne, ist der Krieg in Syrien kein Produkt irgendeines religiösen, innerislamischen Konflikts, sondern eine Folge des so genannten arabischen Frühlings. Bei Wikipedia steht jedenfalls am Anfang des Artikels zum syrischen Bürgerkrieg: „Der Bürgerkrieg in Syrien ist eine militärische Auseinandersetzung zwischen Truppen der Regierung von Präsident Baschar al-Assad und den Kämpfern verschiedener Oppositionsgruppen. Auslöser des Bürgerkriegs war ein friedlicher Protest im Zuge des Arabischen Frühlings Anfang 2011, der zum bewaffneten Konflikt eskaliert ist.“ Die unglückliche Rolle des Westens (also unserer Regierungen) und die schlimme Rolle Russlands in diesem Konflikt lasse ich mal außen vor, aber jedenfalls war der Krieg ein Syrien anfangs keineswegs hauptsächlich religiöser Natur. Organisationen wie der IS wurden erst im Laufe der Zeit, als das Land schon vollkommen destabilisiert war, immer wichtiger. Wenn also behauptet wird, die Syrer könnten keinen Frieden halten, dann lag dies nicht an der Religion, sondern daran, dass sich verschiedene Oppositionsgruppen nicht mehr mit der autoritären Herrschaft von Präsident Präsident Baschar al-Assad abfinden konnten (und dabei von unseren Regierungen unterstützt wurden) und besagter Präsident sich im Recht sah, einen Krieg gegen Teile eines Volkes anzufangen (mit Unterstützung von Russland).

Warum soll dieser Krieg und seine Entstehung ein Beleg dafür sein, dass die hier ankommenden Flüchtlinge hier bei uns – mit der „hier etablierten Religion“ keinen Frieden halten können oder wollen?

Und sollten mit dem Satz oben nicht syrische Flüchtlinge, sondern andere Ethnien gemeint sein, dann wäre eine differenziertere Darstellung schon wichtig. Oder meint der Autor eher allgemein: „Muslime haben eine kriegerische Religion, die dazu führt, dass ein Zusammenlegen mit Muslimen zu Konflikten führt?“ Dann soll er das bitte auch so schreiben. Und das auch gleich den vier Millionen Muslims erklären, die in Deutschland leben. Insbesondere jenen 1,8 Millionen, die unsere deutsche Staatsangehörigkeit haben.

Ich habe Angst, dass unser Sozialsystem unter dieser Masse zusammenbricht, denn dieses ist auf Gegenseitigkeit ausgelegt.

Die Sorge um die Tragfähigkeit des deutschen Sozialsystems ist ein wichtiger Punkt. Man könnte hier tatsächlich diskutieren, wie viele Flüchtlinge wir mit dem derzeitigen Budget aufnehmen können. Laut meiner Kenntnis geht der Bundesfinanzminister derzeit davon aus, im Haushalt 2015 und 2016 auch bei bereits nach oben korrigierten Flüchtlingszahlen keine neuen Schulden machen zu müssen. „Okay“, könnte jetzt jemand sagen, „er sagt uns eben nicht, wie die Lage wirklich aussieht“. Aber ich finde es besteht trotzdem ein großer Unterschied zwischen dem derzeit geplanten ausgeglichenen Haushalt und einem „Zusammenbruch unseres Sozialsystems“. Selbst wenn Herr Schäuble lügt oder einfach keine Ahnung hat, selbst wenn er am Ende doch 1, 2, 5, selbst 10 Milliarden neue Schulden machen müsste, würde das Sozialsystem nicht zusammenbrechen!

Die Frage ist doch viel eher, ob wir dieses Geld bezahlen wollen! Denn eigentlich ist es doch das, was Herr Germann meint, wenn er betont dass unser Sozialsystem „auf Gegenseitigkeit ausgelegt“ ist. Die Flüchtlinge haben aus seiner Sicht auf mittlere Sicht nichts für das System beizutragen, also sollten wir für sie auch nichts bezahlen. Streichen wir also die „Angst, dass unser Sozialsystem unter dieser Masse zusammenbricht“, und ersetzen wir sie durch den Satz, der eigentlich gemeint ist: „Ich will nicht für Menschen bezahlen, wenn ich davon ausgehe muss, dafür nichts zurück zu bekommen.“ Okay, das verstehe ich, Finde ich falsch und mit der „hier etablierten Religion“ (Jesus, und so) nicht wirklich vereinbar, kann man aber so vertreten. Sollte man nur nicht zu laut sagen, wenn man Christen, Sozialdemokraten oder sonstiges Gutmenschenpack in der Familie hat.

Ich habe Angst, dass unser Bildungswesen zusammenbricht, wenn neben Inklusion auch noch Kinder ohne Deutschkenntnisse die Schulen fluten. Wie sollen Lehrer noch Wissen lehren, wenn sie mit Integration beschäftigt sind?

Meine Kinder gehen in der Hannoveraner Nordstadt zur Schule. Die Nordstadt ist jetzt nicht gerade der Schickimicki-Stadtteil von Hannover. Und die Schule ist, man muss es wohl so deutlich sagen, vollgestopft, ja geradezu „geflutet“ mit Migrantenkindern und Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Dass meine Kinder trotzdem lesen und rechnen können, liegt daran, dass die Lehrerinnen gut darin ausbildet sind, Kinder mit sehr unterschiedlicher Leistungsfähigkeit in einer Klasse zu unterrichten. Es gibt Schulbücher und Arbeitshefte, die jede/r Schüler in seinem eigenen Tempo durcharbeitet. Es gibt Förderunterricht für besonders lernschwache und besonders leistungsstarke Schüler/innen. Es gibt besonderen Deutschunterricht für neu hinzu gekommene ausländische Kinder. Am Anfang des Schuljahres bestellt die Schule ALLE Arbeitsmaterialien zentral und sammelt das Geld von den Eltern ein, damit gerade ausländische Eltern nicht mit seitenlangen deutschen Einkaufslisten überfordert sind. Und nein, das ist keine Multi-Kulti-Wünsch-Dir-Was-Schule. Es gibt wie in jeder anderen Schule viele kleine und große Probleme. Aber von „Zusammenbrechen“ ist das alles weit entfernt. Ich würde sogar behaupten, dass das deutsche Schulsystem (bei allen eigenen Problemen, die es hat), noch der Teil der Gesellschaft ist, der am besten integrieren kann.

Ich habe Angst, dass Sie und Ihr Finanzminister sich notwendiges Geld wieder einmal vom kleinen Mann holen und die Reichen im Lande schonen. Die Krankenkassen haben die Erhöhung ja bereits angedroht.

Die Erhöhung der Krankenkassenbeiträge hat eine Reihe von Gründen, die Zahl der Flüchtlinge wird in keinem der Artikel, die ich darüber gelesen habe, genannt. Die Tagesschau nennt als Gründe für das Minus der Kassen und die dadurch notwendigen Beitragserhöhungen: Gestiegene Arzneimittelkosten, zu viele Praxen in Ballungsräumen und fehlende Investitionen durch die Länder für Krankenhäuser (siehe auch www.tagesschau.de). Ich habe zu diesem Thema auch die entsprechenden Titel auf welt.de, faz.net und spiegel.de gelesen. Die nennen im Wesentlichen ähnliche Gründe. Wer’s genau wissen will: www.faz.net; www.welt.de; www.spiegel.de.

Bleibt das Argument mit Frau Merkel und ihrem Finanzminister, die sich „notwendiges Geld wieder einmal vom kleinen Mann holen und die Reichen im Lande schonen“. Ich habe ja bereits weiter oben beschrieben, dass es für Steuer- oder Abgabenerhöhungen zur Finanzierung der Flüchtlingskosten nach Auskunft der Regierung keine Pläne gibt. Sollte es diese Pläne aber dennoch geben, was könnte das sein und trifft es wirklich den „kleinen Mann?“ Da die Unterbringung und der Lebensunterhalt von Flüchtlingen, die noch nicht als Asylbewerber anerkannt sind, vor allem von Steuermitteln finanziert werden, müssten im schlimmsten Fall Steuern erhöht werden. Nun ist es aus fiskalischer Sicht einfach Quatsch zu sagen, dass die Regierung sich das meiste Steuergeld vom „kleinen Mann“ holt. Bei Spiegel Online gab es mal vor einiger Zeit einen guten Artikel zum Thema Steuerbelastung der verschiedenen Einkommensgruppen. Dort steht zur Einkommenssteuer: „Allein die oberen zehn Prozent der Steuerpflichtigen sorgen für mehr als 53 Prozent des Aufkommens, die untere Hälfte dagegen nur für knapp acht Prozent.“ Ähnliches gilt auch für die noch wichtigeren, so genannten indirekten Seuern, allen voran die Mehrwertsteuer. Hier tragen „die zehn Prozent mit den höchsten Verdiensten fast 19 Prozent zu den gesamten Einnahmen bei; die untere Hälfte dagegen nur zu knapp einem Drittel.“ Die Schlussfolgerung des Spiegels lautet also: „Eine Minderheit der Bürger finanziert also den Großteil der Staatseinnahmen. So ist es auch gewollt, denn in der sozialen Marktwirtschaft gilt das Prinzip, dass starke Schultern mehr tragen als schwache.“ (Der ganze Artikel steht übrigens hier: www.spiegel.de). Einzig und allein bei der Vermögenssteuer bzw. Vermögensabgabe sind die Reichen fein raus. Die gibt es in Deutschland nämlich nicht. SPD und Grüne haben im letzten Wahlkampf die (Wieder-)Einführung gefordert, Frau Merkel und die Union haben die Wahl gewonnen und sich durchgesetzt.

Ich habe Angst, dass die Verbrechensquoten rapide ansteigt, weil im Zuge von Sparmaßnahmen die Exekutive kaputt gespart wurde .Ich habe Angst, vor den Menschen, deren Hemmschwelle aufgrund der Gewalt, die sie in ihrer Sozialisation erlebt haben, sehr viel niedriger ist, als wir es kennen. Ich habe Angst, auch vor den Menschen, die aus Ländern kommen, die keine rechtsstaatliche Ordnung kennen, die Polizei auslachen und sich ihre eigenen Gesetze schaffen.

Ich habe diese Punkte mal zusammengefasst, weil sie in eine ähnliche Richtung gehen: Die These lautet also: Kriminalität wird steigen, weil erstens an der Exekutive (wahrscheinlich ist hier vor allem die Polizei gemeint) gespart wurde oder werden wird, zweitens bei vielen Flüchtlingen kein Respekt vor der Polizei und dem Justizsystem herrschen wird und drittens, weil die Flüchtlinge aufgrund ihrer Sozialisation gewalttätiger sind als der Durchschnitt.

Zunächst: Woher kommt die Hypothese, dass ausgerechnet bei der Polizei gespart wurde oder wird? Bei Wikipedia steht, dass die Anzahl der Polizisten in Deutschland in den letzten Jahren immer zwischen 240.000 und 250.000 geschwankt, also um lediglich 5% ist. Die Aufklärungsquote von Straftaten liegt seit rund zehn Jahren bei ca. 55%. Die Steuereinnahmen der Bundesländer sind auch nicht gerade geschrumpft und in jedem Landtagswahlkampf versprechen die großen Parteien, die Stellen für Lehrer/innen und Polizei zu erhöhen oder zumindest nicht zu reduzieren. Dass hier was kaputtgespart wurde oder wird, ist einfach nicht richtig und wäre für jede Landregierung zudem einem politischen Selbstmord gleichzusetzen.

An der Sache mit dem fehlenden Respekt vor der Polizei ist bei Menschen aus autoritären Staaten oder Kriegsgebieten was dran, aber aus meiner Sicht ganz anders, als die Frage suggeriert: Gelacht wird über die Polizei in der Regel überhaupt nicht. In vielen autoritären Staaten wie auch in so genannten „failed states“ sind Polizei und Justiz häufig selbst an Unrechtstaten beteiligt oder zumindest korrupt. Viele Menschen haben kein Vertrauen in die Polizei und versuchen möglichst, jeden Kontakt zu vermeiden. Das hat aber erst mal überhaupt nichts mit Missachtung der Regeln und Gesetze in unserem Staat zu tun. Denn die Vorteile eines Rechtsstaats wissen die meisten Flüchtlinge sehr genau zu schätzen, schließlich sind sie doch genau deshalb nach Deutschland gekommen! Sie werden nur deutlich größere Skrupel haben, sich bei Problemen an die Polizei zu wenden. Hier ist eher Überzeugungsarbeit der Polizei in den Erstunterkünften gefragt, sich bei Konflikten oder Sorgen bei der Polizei zu melden.

Nun zum Thema einer möglichen Gewalttätigkeit: Paragraph 53 des AufenthG sieht eine „Zwingende Ausweisung“ für Ausländer vor, wenn sie wegen einer oder mehrerer Straftaten zu drei Jahren Gefängnis verurteilt werden. Selbst wenn es unter den Flüchtlingen Menschen gibt, die aufgrund ihrer bisherigen Erfahrungen eine „niedrige Hemmschwelle“ haben (was ich im Einzelfall für möglich, in dieser Pauschalisierung aber für eine ziemlich steile These halte): Es gibt eine leistungsfähige Polizei, die jeden ausländischen Straftäter genauso verfolgt wie einen deutschen und es gibt Gesetze, die festlegen, dass schwerkriminelle Ausländer abgeschoben werden müssen.

Ich habe Angst, weil Sie, die Politiker, scheinbar keine Ahnung haben, wie all diejenigen, die hier kein Asyl erhalten werden, wieder zurückgeschickt werden sollen. Freiwillig werden sie wohl kaum in die Züge steigen. Bleiben diese dann illegal in Deutschland und was sind dann die Folgen. Diese Menschen dürfen nicht arbeiten und verfügen über kein Geld. Welche Konsequenzen wird das haben?

Hier verstehe ich einfach nicht, wie der Autor dazu kommt, einfach zu behaupten, die Politiker wüssten nicht, wie man mit abgelehnten Asylbewerbern umgeht. Das Thema „abgelehnte Asylbewerber“ ist ja nun nicht gerade neu. Im Gesetz steht, dass solche Menschen das Land verlassen müssen. Und wenn sie es nicht freiwillig tun, werden sie auf Staatskosten (also unsere Kosten) abgeschoben. Sie kommen bei einer Weigerung in Abschiebehaft und werden in ein Flugzeug gesteckt, das sie in ihre Heimat bringt. Wenn der deutsche Staat die Abschiebung finanzieren muss, bekommen solche Menschen sogar eine Einreisesperre nach Deutschland für eine gewisse Zeit. Die Themen Ausreisepflicht und Abschiebung von Ausländern sind im „Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (AufenthG) in den Paragraphen 50 – 70 sehr(!) detailliert geregelt. Dazu gibt es noch weitere Verwaltungsvorschriften. Ich würde mal behaupten: Die deutschen Behörden mögen zwar vieles nicht wissen, aber wie man abgelehnte Asylbewerber wieder los wird, das wissen sie!

Ich habe Angst, weil zu vermuten ist, dass viele der vermeintlichen Flüchtlinge hier eingeschleust werden, um Anschläge zu verüben, denn woher kommt das viele Geld, dass eine solche Flucht kostet? Jemand der flüchtet, weil er alles verloren hat, verfügt auch nicht über Geld für eine Flucht.

Mal eine kleine Geschichte vorweg: Meine Großeltern mussten 1945 aus Ostpreußen (Oma) bzw. Pommern (Opa) nach Westen fliehen. Sie ließen alles zurück, was sie hatten, sie erlebten den Tod von Freunden und Familienmitgliedern und konnten nur einen Koffer, ein wenig Schmuck und Bargeld, und die Kleidung auf ihrem Leib mitnehmen. In einem Flüchtlingslager in Schleswig-Holstein lernten sie sich kennen. Meine Oma ging manchmal zu einem Bauern in der Nähe, um sich Milch zu holen. Die einzige Jacke, die sie hatte, war ihr Pelzmantel, den sie aus Ostpreußen herübergerettet hatte und der im Fluchtwinter beim Marsch über das Eis lebenswichtig gewesen war. Jedes mal musste sie sich von der Bäuerin anhören, dass es den Ost-Flüchtlingen so schlecht nicht gehen könnte, wenn sie in Pelzmänteln durch die Gegend laufen.

Woher haben Flüchtlinge das Geld für eine Flucht? Meine Güte, diese Menschen kommen doch nicht aus der Steinzeit zu uns! Syrien ist bzw. war ein hochentwickeltes Land mit eigenen Ölvorkommen, Gesundheits- und Schulsystem und einer Alphabetisierungsquote von 80 – 90 Prozent unter den Erwachsenen und 95 Prozent unter den Kindern. Laut Wikipedia wird bzw. wurde bereits ab der ersten Klasse Englisch als Fremdsprache unterrichtet. Die Menschen, die sich auf den Weg nach Europa gemacht haben, haben vor kurzem genau wie wir als Lehrerin, Architekt, Bauarbeiter, Cafebesitzer oder Altenpflegerin gearbeitet. Sie fliehen, weil sie Angst um ihr Leben haben. Aber warum sollten diese Menschen keine Ersparnisse haben? Und natürlich würden sie gerne einfach in Damaskus in ein Flugzeug steigen, um direkt nach Deutschland oder ein anderes europäisches Land zu fliegen. Das Problem ist nur: Sie kriegen kein Ticket, obwohl das deutlich billiger wäre als die Kosten für die Flucht mithilfe der so genannten Schlepper. Googelt einfach mal zum Thema EU-Richtlinie 2001/51/EG. Dort steht nämlich drin, dass Fluggesellschaften dafür haften, wenn Passagiere im Zielland wegen fehlender Papiere abgewiesen werden. Das Unternehmen muss dann eine Strafe zahlen, den Rückflug organisieren und für Unterkunft und Verpflegung bis zur Rückreise aufkommen. Ohne Einreisevisum z. B. für Deutschland geht also gar nix. Die deutsche Botschaft in Damaskus hat wegen des Krieges natürlich längst geschlossen, und in der nächsten Botschaft, in Beirut im Libanon, betragen die Wartezeiten für einen Termin zum Teil mehrere Monate. Wenn man es bis dahin schafft.

Natürlich gibt es überall auch Vollidioten, garantiert auch unter den Flüchtlingen, die nach Europa kommen. Und kann sein, dass es unter diesen Vollidioten auch Islamisten gibt, die terroristischen Gruppen nahestehen. Allerdings gibt es nach Aussagen des Chefs des deutschen Bundesnachrichtendienstes derzeit keine Hinweise darauf (siehe z. B. unter www.welt.de). Das einzige, was ich bisher über Islamismus im Zusammenhang mit islamischen Flüchtlingen in Deutschland gelesen haben, war, dass sie nach ihrer Ankunft in Deutschland von deutschen Islamisten angesprochen werden, um sie für ihre Gemeinden zu gewinnen.

Ich habe Angst, dass die Löhne in diesem Land noch weiter sinken, denn es kommen ja genügend Menschen, die bereit sind für weniger zu arbeiten. Und erzählen Sie mir nichts vom Mindestlohn. Darüber können wir reden, wenn Sie und ihre Kollegen mal ein Jahr lang nur von diesem gelebt haben.

Die Löhne in Deutschland sinken nicht. Nicht einmal die Reallöhne (also die Löhne, die um die Preisentwicklung bereinigt wurden). Es stimmt, dass die Reallöhne in den 2000er Jahren im Durchschnitt gesunken sind. Aber seit 2009 steigen sie. Kontinuierlich. Von „noch weiter sinken“ kann also keine Rede sein. Höchstens von der Befürchtung, dass sie „erstmals seit mehr als fünf Jahren sinken könnten“. Dank des Mindestlohns (der sehr niedrig ist. Zu niedrig. Stimmt.) gibt es aber eine Grenze nach unten. Darüber hinaus gibt es die weiterhin gültigen Branchenmindestlöhne für rund viereinhalb Millionen Arbeitsnehmer. Diese Branchenmindestlöhne dürfen ebenfalls nicht unterschritten werden und liegen in der Regel über dem gesetzlichen Limit. Und es gibt die vielen weiteren Tarifverträge die in vielen Branchen De-Facto-Untergrenzen setzen. Wenn ich Arbeitgeber wäre – hey, Moment, ich bin ja Arbeitgeber! – also wenn ich Arbeitgeber bin und auf Lohndumping aus bin, dann organisiere ich das doch nicht an gesetzlichen Regelungen und dem Tarifvertragsgeflecht in Deutschland vorbei, nur weil es da jetzt ein paar tausend vermeintlich vielversprechende und vielleicht billige Kandidaten gibt. Sondern ich mache das, was ich schon seit Jahren machen kann: Ich gehe mit meiner Produktion oder Dienstleistung direkt ins Ausland. Oder hole mir einen osteuropäischen Werkvertragsnehmer mit noch billigeren Subunternehmern in die Firma. Glaubt denn wirklich jemand, dass die deutsche Wirtschaft auf kriegstraumatisierte Flüchtlinge wartet, um Lohndumping zu betreiben?

Ich habe Angst, weil kein Politiker in diesem Land konkret sagt, wie das alles organisiert werden soll. Wer zahlt die Unterbringung, Verpflegung, Taschengeld (das ich übrigens nicht habe), Gesundheitsbetreuung?

Angst? Wirklich? Oder ist es eher Wut darüber, dass viele Politiker sich lange vor dem Thema gedrückt haben und plötzlich alles ganz schnell gehen muss. Stimmt, darüber war ich auch sauer. Weil die Antwort ja ganz einfach ist: Wir alle. Wir alle müssen mit organisieren bzw. unseren Staat (das sind auch wir) mit der Organisation beauftragen. Und natürlich bezahlen wir alle für die Unterbringung, Verpflegung, Gesundheitsbetreuung von Flüchtlingen. Das wissen doch auch alle. Woher soll das Geld denn sonst kommen? Vom Weihnachtsmann?

Mal ehrlich: Es geht hier doch nicht wirklich um den armen verängstigen Bürger, der das alles nicht weiß und deshalb diese Frage stellt. Der krude Einschub mit dem „Taschengeld (das ich übrigens nicht habe)“ zeigt es ja auch: Es geht um den Bürger, der das alles nicht will. Das verstehe ich. Das ist eine ehrliche Meinung. Aber dann soll man es auch so sagen, und nicht in eine pseudo-unschuldige Frage kleiden. Einfach sagen: „Ich will nicht für Flüchtlinge zahlen!“ Und dann bitte auch den logischen nächsten Satz: „Ich bin für die Abschaffung von Artikel 16a das Grundgesetzes, in dem jedem politisch verfolgten das Asylrecht garantiert wird! Ach so, und weil so eine Abschaffung wegen Artikel 1 des Grundgesetzes nicht so wirklich möglich ist, sollte bitte auch dieser Artikel gestrichen werden!“

Nur zur Erinnerung, da steht Folgendes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“

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Danke Matze!

Ich glaube auch, dass es nicht tatsächlich um Angst in jedem Punkt geht wie ja vom Autoren in jedem Satz hervorgehoben wird. Mir scheint es als würde hier der Begriff "Angst" benutzt, um Gehör zu bekommen und seine Message, sagen wir mal, "zu verpacken"...

Und zur Aggressions-/Gewaltthese: Habe gerade einen Radiobeitrag zum Einsatz der Berliner Polizei in Moabit gehört. Da organisieren gerade Polizisten privat mit ihren Familien Essen und Getränke für Flüchtlinge. Das machen die als Hilfeleistung, aber auch aus "Eigennutz", denn sie haben die Erfahrung gemacht (man höre und staune): Flüchtlinge, die tagelang nichts anständiges gegessen haben, die gefroren haben, die sich dreckig fühlen und überall abgelehnt werden, sind wirklich am Ende ihrer seelischen Kräfte und drehen nach monatelanger Tortur auf den Feldwegen Osteuropas nach Ankunft hier einfach bei vermeintlich kleinen Sachen mal durch und werden ungeduldig und ja, mitunter aggressiv. Gibt man ihnen ein warmes Essen, einen Schlafplatz und erstmal das Gefühl in Sicherheit zu sein, sind sie unendlich dankbar und - wen überrascht es - auch ganz friedlich.

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Es wäre natürlich möglich, dass Angst hier nur als einfache Argumentationshilfe verwendet wird, um die radikalen und eindeutig falschen Aussagen in den Kopf des Lesers einzuschleusen. Bei der Dummheit der meisten Rechtsradikalen gehe ich aber weniger vom Versuch eines rhetorischen Tricks aus.
Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass diese Menschen wirklich Angst haben. Ich möchte deutlich betonen, dass ich hier keine Neonazis verteidigen möchte. Die Ursache für radikales Gedankengut und aggressive Handlungen ist in den meisten Fällen die simple Mischung aus Armut und dem Mangel an Bildung.

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