Das Floss: "Abendboot - die Fortsetzung: Am Feuer"
Donnerstag, 19. Dezember 2002
Das Floss: "Abendboot - die Fortsetzung: Am Feuer"

DIE IDEE: Der Kurzgeschichten-Zyklus "Das Floß" ist der (zugegebenermaßen relativ sentimentale) Versuch, Tagträume, Wirklichkeitsfluchten und Phantasien ganz verschiedener Personen festzuhalten. Sprachstil, Form und "Ernsthaftigkeit" der einzelnen Geschichten sind dabei völlig freigestellt.

DAS PROZEDERE: Den Rahmen für den Zyklus habe ich bereits geschrieben, er ist kursiv gesetzt. Wenn Ihr ein neues Kapitel schreiben wollt, kopiert bitte diesen Einleitungsteil (DIE IDEE und DAS PROZEDERE) und den Rahmen, legt eine neue Geschichte mit dem Topic "Das Floss" an, fügt den kopierten Text dort ein und schreibt Eure Geschichte darunter. Als Titel nehmt den Titel Eurer Episode.

Wenn die Fenster erloschen sind, ein leiser Regen die Letzten in die Häuser zwingt und der Wind den Abfall der Straße vor sich her treibt, träfe man auf eine äußerst merkwürdige Gesellschaft – unten, am Fluss – trieben Feuchtigkeit und Kälte einen nicht zurück ins Haus oder die Wohnung, ins Schlafzimmer oder auf die provisorische Schlafcouch, Hauptsache, ein Dach und etwas Wärme in dieser Nacht. Die Gestalten am Fluss stört dies wenig, tatsächlich sind Zeitpunkt und Witterung ihrer Treffen mit Bedacht so gewählt, dass niemand sie so, scheinbar schweigsam stehend, jeder und jede ganz in sich selbst versunken, anträfe oder gar störe. Ihre Zahl ist schwer zu schätzen; Bäume, Weiden vor allem, stehen zwischen Ihnen und um sie herum, und auch sie, die dort stehen, kennen ihre Zahl nicht genau, können sich kaum sehen zu dieser Zeit an diesem Ort. Ein Autoscheinwerfer oder das Licht einer Lampe nähme diesem Bild schnell die romantisch- mystische Attitüde, die es durch die Umstände des Zusammenkommens nur zu leicht erhält. Das kurz aufblitzende Licht eines Feuerzeugs, das für kurze Zeit – geschickt abgedeckt – dem kalten Wind trotzt, deutet den wahren Anblick der Gruppe an, der sich bei hellem Tageslicht dem Spaziergänger böte.

Der Zweck dieser Zusammenkunft ist jedes Mal derselbe: Man baut ein Floß. Aus Weidenholz und fester Schnur, mit einigen Nägeln, Teer und Tuch wird ein großes Holzfloß gefertigt, das Platz für all jene bietet, die sich hier regelmäßig versammeln. Und doch ist es jedes Mal ein anderes. Genaue Form und Farbe des Gefährts wechseln ebenso wie Abfahrtszeit und Besatzung. Und immer steht eine andere der grauen Gestalten am Ruder, bestimmt die Fahrtziel und Fahrtrichtung.

Nach einiger Zeit der Sammlung und des Schweigens erhebt jemand die Stimme: „Ich habe ein Floß gebaut.“

Das Kichern an diesem „nicht allzu weit entfernten Ort“ kommt von der Gestalt, die mit Blick auf den Fluss am Feuer sitzt: „Warum sagst du diesen Satz? Es gibt diese Treffen nicht mehr. Das war eine schöne Zeit, aber spätestens seit ich in der Zeitung gelesen habe, dass die letzte Gruppe aufgeflogen ist, ist die Nummer mit dem Floß bauen endgültig vorbei.“ Für kurze Zeit ist nur ein Säuseln in der Uferböschung und das Knacken des Flackernden Feuers zu hören. „Das glaube ich nicht, schließlich sind wir heute hier. Darum habe ich den Satz gesagt.“ Das unebene Gesicht des anderen Mannes, der mit dem Rücken zum Fluss sitzt, wirkt im ungleichmäßigen Schein der aufleuchtenden Flammen nicht mehr so blass, wie im fahlen Mondlicht. Es verrät nicht die Ruhe, schon gar nicht den scharfen Verstand, der meistens hinter seinen Worten steckt. „Na was hat dieser Abend denn noch mit den Treffen von früher zu tun? Der Nieselregen hat aufgehört. Ich warte schon drauf, dass irgend so ein Normalversager mit seinem Hund auf der Abendrunde vorbeikommt und uns mit Politik, Arzt- oder Wie-schlecht-die-Welt-doch-geworden-ist-Geschichten vollnervt. Das ist doch kein Wetter mehr, bei dem sich die Standardverlierer nicht mehr aus dem Haus trauen. Kaum Wind, kein Nebel, lau. Außerdem sitzen wir hier – wo keine Weiden mehr wachsen. Wir hätten ja nicht mal die Chance ein Floß zu bauen. Das kleine Feuer aus dem Böschungsholz ist jawohl kein Ersatz. Wir können froh sein, dass wir es nach der ganzen Bastelei überhaupt angekricht haben, so nass wie das ist. Und überhaupt: wir sitzen hier und quatschen, statt schweigend ein Floß zu bauen und in ein ungewisses Abenteuer aufzubrechen. Von den Gestalten, die neulich erwischt wurden ist keine mehr da.“ „Ich bin hier.“ „Du warst auch dabei?“ In aller Ruhe wirft der Gefragte zunächst ein paar kleine, verzweigte Astenden ins Feuer, deren Feuchtigkeit für das Zischen und die abnehmende Helligkeit im Flackern verantwortlich ist. „Ich bin rechtzeitig abgehauen. Aber auch die anderen werden wiederkommen. Wahrscheinlich auch sehr bald wieder weiter flussaufwärts, bei den Weiden.“ „Heute wahr jedenfalls keiner da, sonst wäre ich gar nicht mehr hier angekommen. Aber selbst wenn: das Ganze hatte doch schon lange die Linie verloren. Irgendwann soll es vorgekommen sein, dass mitten auf dem Wasser einfach ein anderer das Ruder übernommen hat. Dabei sollten es doch ursprünglich Fahrten sein, die einer durchzieht. Dia anderen fahren nur mit.“ „Wo steht das geschrieben?“ Das Zischen ist immer mehr verstummt. Die ehemals nassen Zweige lodern jetzt in trommelnd knackender Flamme. Darum folgt nun unausweichlich ein dickeres nasses Stück Treibholz, das wieder das Zischen hervorruft und zum Abdunkeln der ganzen Szene führt. Dadurch wird der Blick des Mannes mit den alten, aus der Mode geratenen, hohen, weißen Turnschuhen wieder auf das fahle Spiegelbild der dünnen Sichel auf dem Fluss gezogen. Die Wellen teilen es in immer andere Bruchstücke. Während er mit seinen Zweifeln ringt, mustert er seinen Gegenüber. Aber außer den Umrissen des krausen Haares und den rot funkelnden Punkten der verbliebenen Glut in seinen Augen ist nicht viel zu erkennen. Die grüne Wachsjacke ist mehr Erinnerung, war sie doch im lodernden Feuer gut zu sehen. Er nimmt seine Brille ab, um den störenden Schleier mit einem Taschentuch zu entfernen. Schließlich verliert er doch gegen seine inneren Einwände, obwohl er die Idee der totalen Freiheit gerne annehmen würde: „Ich weiß nicht. Wir können doch nicht alles freigestellt lassen. Mir hat man erzählt, dass der, der einmal mit all dem hier angefangen hat, wollte, dass jeder sein eigenes Floß baut. Aus welchem Grund auch immer. Aber ein Ziel sollte es haben. Die Erfüllung eines alten Traumes, das Entfliehen aus dem Alltag für kurze Zeit in eine stumme Welt, in der man sich ohne Worte versteht. Oder einfach die Lösung eines alten Problems, die Antwort auf eine wichtige Frage, das Abschließen eines Kapitels im Leben an dem andere stumm teilhaben dürfen. Bei dem sie durch schweigende Anteilnahme helfen können. Und jetzt kommt es vor, dass zwei Flöße auf einmal gebaut werden und alle lachen sich tot. So war es doch oder?“ „Das stand aber nicht in der Zeitung.“ Der geneigte Leser mag nun Verwunderung in diesem Satz vermuten, doch liegt tatsächlich eine tiefe Bestimmtheit in der vertauensvollen und immer noch sehr ruhigen Stimme. „Nein, stand es nicht. Ich kam gerade, als das Dilemma mit den zwei Flößen offensichtlich wurde. Bin sofort wieder gegangen. Ich habe es eigentlich nur von weitem gehört. Die Polizei habe ich nicht mehr gesehen. Für mich war es schon vorher genug, das Ende einer tollen Idee, das Aus vieler schöner Träume.“ Das Taschentuch ist wieder in der schwarzen Hochwasserjeans verschwunden. Mit dem beigen Hemd unter der verwaschenen schwarzen Jeansjacke gibt die Gestalt an der Uferseite des Feuers ein ziemlich komisches Bild ab, dass der erfinderischen, freundlichen Art des Mannes nicht gerecht wird. Langsam kämpft sich das Feuer gegen die Feuchtigkeit des dicken Holzes vor. Es wird wieder heller. Doch jetzt muss der verständige Gegenüber wieder das Wort ergreifen: „Ich glaube nicht, dass es das war. Wenn es diese mysteriöse Person, mit der alles angefangen hat, wirklich gibt, ist sie wahrscheinlich noch unter uns, war vielleicht sogar neulich dabei. Wenn es ihn gibt, freut er sich wahrscheinlich, dass es immer noch Menschen gibt, die sich bei Regen, Sturm und tiefschwarzer Nacht nicht in den Langweiler-bunkern verkriechen, sondern darin dass typische Floßwetter erkennen.“ „In dem, was du sagst, höre ich viel Wahrheit, die weiter reicht, als das, was die anderen sagen. Ich bin doch auch schon eine Weile dabei, aber ich habe immer nur von festen Ritualen gehört. Irgendwer hat sie festgelegt und dabei muss es bleiben. Obwohl ich nie fand, dass das zu dem Grundgedanken passt. Ich meine, es ist doch an sich schon ziemlich komisch sich mitten in der Nacht bei Schmuddelwetter zu treffen und seinen Träumen nachzujagen. Warum sollte es da Regeln geben? Wie lange kommst du schon her?“ „Sehr lange.“ Auf der kleinen Lichtung in der Uferböschung, die von dichtem Buschwerk gegen die angrenzende Wiese abgetrennt wird, ist für kurze Zeit wieder nur säuseln und immer noch leises knistern im zischenden Feuer zu hören, dass aber immer lauter wird, da die Feuchtigkeit immer mehr aus dem schweren Holz weicht. Der Mann, der zwischen Feuer und Fluss sitzt, scheint nicht gewillt, genauere Auskünfte zu geben. „Hast du mal einen gekannt, der der Urheber der ganzen Sache sein könnte.“ „Viele glauben, dass es der Alte sein könnte, der öfter da ist. Ich gehöre aber nicht dazu. Der Alte hat zwar viel Gutes getan, hat oft zu denen gehalten, die auf der Suche waren, hat aber andererseits auch oft versucht Linie reinzubringen. Und vielleicht oft mehr als nötig. Eine strenge Linie ist der Feind der Phantasie. Wenn hier Träume nicht mehr geträumt werden, weil die Flöße oder die Fahrten zu chaotisch oder nicht ernst genug sein könnten, dann würden wir uns wirklich von dem verabschieden, was das ganze hier mal war. Oder werden sollte. Wie gesagt, ich glaube vor allem, dass – wer auch immer mal angefangen hat – sich freuen würde, dass seine Idee noch lebt. Ich glaube, es ist ihm egal, wie ernst oder weniger ernst es die meinen, die kommen. Falls er nicht doch immer wieder unter uns ist, würde er sich freuen, wenn er eines Tages käme und sehen würde, dass seine Idee von den Flößen immer noch schwimmt. Immer noch nicht untergegangen ist – egal in welcher Form.“ „Wahrscheinlich hast du recht. Ich habe viele Geschichten gehört, von Fahrten ohne genaues Ziel, von Reisen, die so lange andauerten, dass die Menschen auf dem Floss in ihren Familien, bei ihren Freunden oder an ihren Arbeitsplätzen vermisst wurden. Meistens konnten sie nicht mal genau sagen was eigentlich passiert war. Aber man merkte ihnen an, dass es etwas Großartiges, nicht durch Worte beschreibbares gewesen sein musste, dass sie immer noch beeindruckte. Vielleicht sollte man einfach alles freistellen. Wer sagt denn, dass immer tatsächlich ein Floß gebaut werden muss? Die Idee, der Grundgedanke ist wichtig. Und wahrscheinlich hast du auch recht damit, dass der Abend heute tatsächlich schon ein neues Kapitel vom großen Ganzen ist.“ „Mit einer Einschränkung: Es sollten nur noch Flöße gebaut werden, wenn der Erbauer bis zum Ende mitfährt. Wenn er am Ufer stehen bleibt, ist das alles nur eine Episode mit allzu offenem Ende. Das führ zu einer zu großen Beliebigkeit, denn: was passiert wenn dann einfach gar keiner weitersteuert? Wie die Flöße aussehen ist wirklich egal, auch ob es überhaupt tatsächliche Flöße sind oder nur sinnbildliche, aber alle müssen mit.“ Der Himmel über den beiden ist jetzt sternenklar. Die Nacht ist doch recht kühl geworden, dass kleine Feuer, um das die beiden Gestalten sitzen sollte endlich wieder kräftiger werden, damit sie nicht zu sehr frieren müssen. „Nein, tut mir leid, dass sehe ich nicht so. Wenn schon frei, dann ganz. Was soll das sein, ein allzu offenes Ende? Wer mit an einem Floß baut wird seine Gründe haben. Aber genauso kann es gute Gründe geben, warum er gar nicht oder nur ein kurzes Stück mitfahren möchte. Vielleicht ist er noch nicht so weit. Vielleicht geht es beim nächsten mal weiter. Manchmal muss man einen Traum erst ein Stückchen geträumt haben, um zu entscheiden, wie es weitergeht. Und ob überhaupt.“ „Hmmmm.“, zum ersten mal scheint der Mann in der Wachsjacke wirklich über etwas nachzudenken, auf das er noch keine eindeutige Antwort hat; „Vielleicht bist du dieses mal auf dem richtigen Weg. Warum nicht gleich alles freistellen. Wahrscheinlich war es einfach die Hoffnung, dass mal wieder einer mit vielen Träumen und Illusionen kommt, ein richtiges, großes Floß baut und alle bis aufs offenen Meer mitnimmt.“ „So was hat es mal gegeben?“ „Es ist lange her und es war eine meiner schönsten Fahrten, vielleicht die, die mich am meisten geprägt hat. So etwas vergisst man nie mehr und man wird immer hoffen, dass es noch einmal ein paar Momente geben wird, die etwas bringen, dass wenigstens ein bisschen an die Erfahrungen dieser Tage anknüpft.“ „Erzähl mir von der Fahrt.“ „Es ist eine lange Geschichte, ich weiß nicht, ob ich sie noch einigermaßen zusammenbekomme...“ „Jetzt, wo das große Stück endlich richtig brennt haben wir doch reichlich Zeit, also fang einfach an!“ Noch einmal ahnt der Betrachter das freudige Funkeln in den Augen des Mannes mit dem blassen Gesicht. Die Freude darüber, dass mit diesem Abend am Feuer die Flöße weiterschwimmen. Und doch werden die beiden Gestalten am Feuer immer kleiner, ihre Stimmen verschwinden im zunehmenden Säuseln des Windes, so dass der tiefe Ursprung dieser Freude verborgen bleiben muss, sicher zu ahnen, aber ungewiss. Und während auch der rote Punkt in der Ferne verschwimmt, der Beobachter immer weiter abgedrängt wird, wird die tiefe Sehnsucht, diese eine Geschichte noch zu hören, immer größer. Doch das ist ein neuer Teil der Episode, so dass die Sehnsucht zunächst ungestillt bleiben muss. Und doch trägt sie in sich ein freudiges Funkeln: die Gewissheit, dass die Idee nicht untergehen kann, die Hoffnung, dass bald wieder große Flöße schwimmen.

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Re: Das Floss: "Abendboot - die Fortsetzung: Am Feuer"

Die Geister, die ich rief...

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Das Floss: "Bär"

Wenn die Fenster erloschen sind, ein leiser Regen die Letzten in die Häuser zwingt und der Wind den Abfall der Straße vor sich her treibt, träfe man auf eine äußerst merkwürdige Gesellschaft – unten, am Fluss – trieben Feuchtigkeit und Kälte einen nicht zurück ins Haus oder die Wohnung, ins Schlafzimmer oder auf die provisorische Schlafcouch, Hauptsache, ein Dach und etwas Wärme in dieser Nacht. Die Gestalten am Fluss stört dies wenig, tatsächlich sind Zeitpunkt und Witterung ihrer Treffen mit Bedacht so gewählt, dass niemand sie so, scheinbar schweigsam stehend, jeder und jede ganz in sich selbst versunken, anträfe oder gar störe. Ihre Zahl ist schwer zu schätzen; Bäume, Weiden vor allem, stehen zwischen Ihnen und um sie herum, und auch sie, die dort stehen, kennen ihre Zahl nicht genau, können sich kaum sehen zu dieser Zeit an diesem Ort. Ein Autoscheinwerfer oder das Licht einer Lampe nähme diesem Bild schnell die romantisch- mystische Attitüde, die es durch die Umstände des Zusammenkommens nur zu leicht erhält. Das kurz aufblitzende Licht eines Feuerzeugs, das für kurze Zeit – geschickt abgedeckt – dem kalten Wind trotzt, deutet den wahren Anblick der Gruppe an, der sich bei hellem Tageslicht dem Spaziergänger böte.

Der Zweck dieser Zusammenkunft ist jedes Mal derselbe: Man baut ein Floß. Aus Weidenholz und fester Schnur, mit einigen Nägeln, Teer und Tuch wird ein großes Holzfloß gefertigt, das Platz für all jene bietet, die sich hier regelmäßig versammeln. Und doch ist es jedes Mal ein anderes. Genaue Form und Farbe des Gefährts wechseln ebenso wie Abfahrtszeit und Besatzung. Und immer steht eine andere der grauen Gestalten am Ruder, bestimmt die Fahrtziel und Fahrtrichtung.

Nach einiger Zeit der Sammlung und des Schweigens erhebt jemand die Stimme: „Ich habe ein Floß gebaut.“

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Es ist eiskalt und nebelig hier draußen, dachte sich der Bär. Die nasskalte Luft kroch langsam in sein Unterfell. „Eisbären können gar nicht frieren“ sinnierte der Bär, „aber mir ist kalt. Saukalt!“ Der Bär hatte noch nie in seinem langen Leben Schweine gesehen, aber er kannte den Ausspruch von den Inuit, deren Mülltonnen er gelegentlich plünderte, wenn ihn der Hunger quälte und seine Jagd nach Robben erfolglos blieb. „Warum? Warum nur habe ich mir diesmal so viel Zeit gelassen?“ fragte er sich gedankenverloren. „Es hat doch bisher immer geklappt!“ Das Knirschen einer bald abbrechenden Scholle schien ihm doch inzwischen ins Bärenblut übergegangen zu sein. Mit leichtfüßiger Gewandtheit schaffte er doch stets den letzten trockenen Schritt zurück aufs feste Eis. Nun ja, die paar Ausrutscher, die ein unkalkuliertem Bad in der eiskalten See nach sich zogen, brachten ihn jedes Mal in Rage. „Zumindest hat mich keiner gesehen“ lächelte der Bär verstohlen in seinen Pelz. Wie konnte er nur dieses Knirschen überhören? Als er aufwachte, war die Schelfeisplatte nur noch von weitem zu erkennen. „Eindeutig zu weit zum schwimmen“ erkannte der Bär, „Saukalt!“. Die Eisscholle, auf der er jetzt das Eismeer befuhr, war groß genug, um zumindest für ein paar Tage trockene Tatzen zu behalten. Sie schien stabil im Wasser dahinzutreiben und hatte nicht den Anschein, in jedem Moment auseinander zu brechen. Sein Hunger hielt sich dank der Eskimo-Abfälle in Grenzen und es gab somit keinen Grund, sich nicht noch etwas auszuruhen. „Mein Instinkt weckt mich bei nahender Rettung!“ hoffte der Bär jedenfalls. Die See war für die Jahreszeit überraschend ruhig, der Wind blies kaum, nur der nasskalte Nebel ließ den alten Bären enger zusammenkauern als sonst.
„Hey Du!“ hörte der Bär jemanden in seinem Traum rufen. „Hey, Hallo alter Bär!”
Dem alten Bären kam es so vor, als träumte er heute besonders lautstark.
„Was ist denn mit dem los? Ist der schon tot und keiner wollt’s ihm sagen...?“
Das war dem Bären zuviel. Er entschied sich aufzuwachen, rieb sich die verschlafenen Bärenaugen und blickte grimmig um sich. Nur einen Steinwurf entfernt trieb eine Robbe auf einer ähnlich großen Eisscholle neben ihm her und grinste ihn mit dem freundlichsten Robbenlächeln, dass er in seinem langen Bärenleben gesehen hatte, an.
„Hey Bär, was geht ab? Ich dachte schon, du bist...“
„Bist du irre, ich bin ein böser Eisbär, du doofe Robbe! Ich könnte jetzt rüberspringen und dich...“
„Hey, ich kenn dich, ich hab dich schon mal gesehen. Du bist doch der pummelige Bär, der jedes mal ins Wasser plumpst, wenn er...“
„Schon gut! Is’ schon gut! Ich tu dir nichts! Ausnahmsweise.“
„Hab ich mir auch gedacht. Ich kenn Dich nämlich vom...“
„RUHE! Hat mich sonst noch jemand gesehen, wenn ich... Na, du weißt schon...“
„Nee, nur ich und die zwei Pinguine. Aber deren Dialekt versteht sowieso keine alte Sau!“
Warum schon wieder diese Schweine raunzte der Bär leise in seinen Pelz.
„Was machst du hier?“ rief der alte Bär der Robbe freundlich zu.
„Das gleiche wie du, Absprung verpasst!“ konterte die Robbe.
Die Robbe war dem Bären eigenartigerweise sympathisch. Seine Zuneigung kollidierte zwar mit seinem angeborenen Jagdinstinkt, aber darauf pfiff der alte Bär in seiner jetzigen Situation, auf einer Eisscholle im Eismeer treibend und von einer frechen Robbe belästigt.
„Du gefällt mir. Nimmst kein Blatt vor den Mund, nicht mal in Todesgefahr wie eben jetzt.“
„Hey Bär, du vergisst! Ich hab dich gesehen, wie du jedes Mal... „
„Ich meinte na nur...“ entgegnete der Bär etwas enttäuscht.
„Du tust mir sicher nichts?“ fragte die Robbe und paddelte inzwischen mit ihrer Scholle zu dem alten Bären. „Du scheinst einer der wenigen lieben Bären zu sein, stimmt’s?”
„Ach... Na ja... Ich weiß nicht... Wenn Du meinst“. Der alte Bär bekam rote Ohren.
„Wie lange werden wir noch nebeneinander her treiben?“ fragte die Robbe.
„Keine Ahnung. Kennst du Schiffe-Versenken?“ antwortete der Bär verlegen
„Titanic? Klar! Kenn ich! Spielen wir eine Partie?“ rief die Robbe frech in Richtung des Bären.
Der alte Bär und die freche Robbe spielten eine halbe Ewigkeit und riefen sich gegenseitig die Koordinaten zu. Keiner gewann oder verlor zu oft, beide hatte einen Heidenspaß.
„Warum sprichst Du so leise?“ schrie der alte Bär der Robbe zu.
„Merkst du nicht, dass wir seit kurzem immer weiter voneinander abtreiben?“ brüllte die Robbe.
„Und! Was tun wir jetzt!“ Der alte Bär wurde sichtlich nervös.
„Was sollen wir tun? Keine Ahnung! Lass uns weiterspielen, wenn wir wieder festen Boden unter den Füßen haben!“ brüllte die Robbe zurück.
„Das glaub ich kaum“ murmelte der alte Bär.

Für Clara. Denke an Dich, ich tu es ja auch!

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