Sonntag, 30. November 2003
Absolut
Kailoi
20:19Uhr | tag: Fingeruebungen
Vor mir standen Paul und Lydia S., alias derzeitiger Bürgermeister von New York und seine Gattin. Miss S. hatte gerade begonnen mir mitzuteilen, was meinen Arbeit in ausgelöst hatte. Ich schaltete meine Aufmerksamkeit jeweils gegen Ende ihrer von Begeisterung getragenen Sätze ein, um den Anschein einer Konversation zu wahren. Während ich ein angedeutetes Lächeln aufrecht erhielt, begann ich mich fürchterlich zu langweilen. Der Ort dieses Zusammentreffens war eines der neuesten und angesagtesten Restaurants in New York. Es war in einer leerstehenden Bürohausetage eingerichtet worden und von hier hatte man einen wundervollen Blick über die Stadt. Ich produziere keine Kunst, sondern Kontexte. Ich vermittle den Reichen und Mächtigen dieser Welt Informationen, die ihrem gelangweilten Leben im Überfluss einen scheinbaren Sinn verleihen. Diese Leute müssen sich nicht damit beschäftigen ob sie genug Geld haben, um ihre nächste Miete zahlen zu können oder ob sie es sich leisten können, ihr Mädchen zum Essen einzuladen. Sie entstammen großen Familien, in denen solche Gedanken schon seit Ewigkeiten nicht mehr zum Alltag gehörten. So war nun im Museum meine Fotoreihe mit dem Titel >Lyse< ausgestellt. Ich hatte die Kamera, mit der ich die Bilder aufgenommen hatte, in ihre Einzelteile zerlegt und die Teile fein säuberlich angeordnet, da sie das Motiv darstellten. Paul fragte mich in seiner charismatischen Art die, wie er glaubte, genau den Ton traf in dem man mit Künstlern zu reden hatte, was ich als nächstes plane. Ich erklärte ihm, dass es mein bisher größtes Projekt werden und ich derzeit noch einige wichtige Einzelheiten ausarbeiten würde.
Ich befand mich an der dunkelsten Stelle auf diesem Planeten. Es hatte schon genauester Recherchen bedurft, um einen Ort auszumachen, an dem nicht irgendwo eine Stadt oder zumindest eine Siedlung war, die irgendwo am Horizont lag und Licht ausstrahlte. Den genauen Punkt bestimmte ich als den, an dem die Mondfinsternis des heutigen Tages ihre perfekte Ausprägung erreichte. Der Zufall wollte es, dass zu diesem Zeitpunkt eine sehr dichte, aber lokal begrenzte Nebelbank über das Land zog. Es war wichtig, dass es keine große Wolkendecke war, denn an dieser wären vermutlich die Lichter einer weit entfernten Stadt reflektiert worden. Die Kamera sollte, wenn alles klappte, absolute Dunkelheit aufzeichnen. Ich hatte sogar darauf geachtet, dass an diesem Ort keine Pflanzen wuchsen, damit nicht einmal die winzigsten Spuren von Biolumineszenz auf dem Film auftauchen würden. Der Nebel bedeckte mich mit kühler Feuchtigkeit. Ein erdiger Geruch lag in der Luft. Es herrschte absolute Stille. Ich hatte zwei Audiorecorder dabei, um eventuell ein paar Tonaufzeichnungen zu machen. Ein Gerät hatte ich in der Nähe der Kamera platziert, den zweiten hatte ich bei mir. Ich glaubte, ich hätte ein Geräusch gehört. Steinchen raschelten kurz. Vermutlich gab es hier Kleintiere. Vielleicht hatten sich auch einige Steinchen, die durch meine Schritte aufgetürmt worden waren, wieder in eine stabilere Position gerollt. Dennoch spürte ich, wie eine schnell anwachsende Unruhe in mir aufstieg. Ich lauschte angestrengt - nichts. Meine Unruhe wurde trotzdem immer intensiver. Ich hatte Angst und die Angst wuchs immer weiter. Ich war nicht nur am dunkelsten, sondern auch am einsamsten Ort der Welt. Ich hatte ein Funkgerät im Wagen. Aber falls mir etwas passieren würde und ich nicht mehr bis dorthin zurückkam, wäre ich verloren. Ich beschloss, leise in mein Tonbandgerät zu flüstern, über diese Angst zu sprechen, sie zu dokumentieren und mich durch diese Tätigkeit gleichzeitig zu beruhigen. Ich glaube, es gibt eine Erklärung für die Angst in der Dunkelheit. Es gibt eine Erkläung dafür, warum die Menschen überall in der Welt die Nacht mit großen Laternen und Scheinwerfen ausleuchten... -ich weiß, es gibt eine einfache Erklärung. In der Dunkelheit können immer Gefahren lauern. Das war schon immer so. Ob es nun Raubtiere ... in der Wildnis sind oder Verbrecher hinter der nächsten Straßenecke. An der Bedeutung der Dunkelheit als Versteck für die gefährlichen Subjekte unserer Umwelt hat sich nichts verändert. Aber, ich glaube, ... es ist mehr als das. Die Dunkelheit ... isoliert uns. Sie lässt uns mit uns allein. Sie konfrontiert uns mit unserer Phantasie. In einem scheinbar leeren Raum kann unser sonst von Reizen überflutetes Gehirn nicht existieren. Es...es zeigt so etwas wie Entzugserscheinungen. Es... Wieder ein Geräusch - oder nicht? Und war da nicht irgendeine Bewegung? Aber nein, das ist nicht möglich. ... das Gehirn beginnt, Geräuschen und kleinsten Lichtimpulsen eine ungeheure Bedeutung zuzuordnen, weil sie die einzige Verbindung zur Außenwelt darstellen. Und in diesem ungewöhnlichen Umfeld beginnt man, die unmöglichsten Dinge für möglich zu halten. Man sieht oder hört Gespenster oder unsichtbare Verfolger... Ich habe das Zeitgefühl verloren. Ich möchte jetzt nicht auf eine Uhr sehen, weil es Licht erfordern würde und ich damit alles zerstören könnte. Ich bemerke, dass ich meine Muskeln seit einer Weile angespannt, beinahe verkrampft habe. Vielleicht sollte ich das Projekt an dieser Stelle abbrechen. Meine Augen haben sich an die Dunkelheit gewöhnt, aber ich sehe immer noch nichts. Ein paar Lichtpunkte tanzen vor meinen Augen. Doch als ich sie kurz schließe, sind die Punkte immer noch da. Die Kälte der Nacht steigt in meine Knochen. Die Angst in mir droht, in Panik umzuschlagen, ich beschließe, noch ein Weilchen zu reden. Es ist auch möglich, dass wir uns in dieser zwangsweise nach Innen gerichteten Aufmerksamkeit vor uns selbst erschrecken. Dass wir erkennen, was für absonderliche, gefährliche, fürchterliche Kreaturen wir sind. Wir gruseln uns vor den Gedanken, die wir am hellichten Tag und im allgemeinen Durcheinander unterdrücken können. Aber im Dunkeln dringen sie in unseren von Wahrnehmungslosigkeit gelangweilten Verstand und beginnen, uns zu quälen. Das ... bedeutet, dass ... wir haben uns eine Welt geschaffen, die unsere grausame, lebensfeindliche und irrationale Lebensweise verschleiert, indem sie uns kontinuierlich blendet. Selbst in der tiefsten Nacht können wir die Augen öffnen und eine Umwelt erkennen, die existiert. Weil es immer jemanden gibt, der sie beleuchtet. Aus Gewohnheit folgen wir nur den beleuchteten Pfaden. Nicht denen, die in die Dunkelheit führen. Ich zwinge mich aufzustehen. Ich werde jetzt die Kamera abbauen und mich auf den Rückweg machen. Auf dem Weg zur Kamera, den ich mit Hilfe des GPS-Gerätes und einer kleinen Taschenlampe suche, ertappe ich mich kurz bei dem Gedanken, dass die Kamera fort sein könnte - ich weiß nicht warum. In dem Moment, indem ich die Lampe anschalte erwarte ich, die fürchterlichsten Dinge zu sehen, die sich im Dunkeln vor mir versammelt haben könnten. Aber ich sehe nur dicke Nebelschwaden und den steinigen Grund vor mir. Während ich gehe, spreche ich weiter in das kleine Mikrophon, dass aus der Brusttasche meines Matels ragt. Wir sind gefangen im Licht. Und selbst, wenn wir manchmal zweifeln, wenn wir ... wir die Schatten hinter allem erkennen, können wir uns mit einem Blick auf die nächste Lichtquelle beruhigen. Der Audiorecorder ist immernoch dort, wo ich ihn abgestellt habe. Auch die Kamera steht noch auf ihrem angestammten Platz. Ein prüfender Blick bestätigt, dass das Filmmaterial be... bedunkelt worden ist. Ich kehre zurück zu meinem Wagen. ... Comment
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