Zeitvertrag
Dienstag, 27. Juli 2004
Zeitvertrag

§ 2:

Einmal haben wir Jennys Mutter besucht. Das war im letzten November. Eines Nachmittags stand Jenny plötzlich in meinem alten Büro und fragte, ob ich mit wollte. Ich muss arbeiten, sagte ich. Was nicht stimmte. Weder musste ich arbeiten, noch arbeitete ich jemals wirklich. Meistens saß ich am PC, abonnierte, las, kündigte Newsletter und trank dazu Pfefferminztee. Ach komm schon, dann lernst du sie mal kennen. Sie ist total harmlos, sagte Jenny. Na sicher, entgegnete ich, und darum besuchst du sie auch nie. Weil ich’s alleine nicht aushalte. Zu zweit ist das bestimmt lustig. Ich hab ihr schon gesagt, dass ich dich mitbringe. Das war seltsam. Eigentlich war es nicht ihre Art, mir ihren Willen aufzuzwingen. Schließlich gab ich nach. [hier gehts weiter...]

Jennys Mutter lebte in einer Art Loft nahe dem Stadtzentrum. Als wir vor der Wohnungstür standen, kam uns ein intensiver Duft entgegen, es roch wie in einer Backstube. Sie macht Plätzchen, sagte Jenny. Damit du siehst, was für eine tolle Mutter sie ist. Die Tür ging auf und vor uns stand eine schlanke Frau Mitte vierzig, pechschwarze Haare, dunkle Augen, Perlenohrringe, beiger Hosenanzug und davor – ganz Hausfrau – eine orange Schürze. Kinder, ihr seid zu früh! krähte sie uns entgegen, ich bin noch mitten in der Arbeit. Der Ton ihrer Stimme war unangenehm: rauchig, penetrant, mit einem Hauch gespielter Fürsorge. Sie platzierte uns auf dem couchähnlichsten Gegenstand, der in der ganzen Wohnung zu sehen war, einer riesigen Fleischwurst aus PVC. Dann war sie in der Küche verschwunden. Jennys Blick erinnerte mich an den Gesichtsausdruck einer Anklägerin, die ich einmal im Fernsehen beim Haager Kriegsverbrechertribunal gesehen hatte. Nicht gut? fragte ich. Nicht gut. Sie deutete auf unsere unglaublich unbequeme Sitzgelegenheit. Ihr letzter Lebensabschnittsgefährte war irgendwas Halbwichtiges bei der Messegesellschaft, der konnte immer Ausstellungszeug abstauben. Ich find’s hier irgendwie lustig, log ich. In Wirklichkeit war die Wohnung vollkommen absurd. Das Wohnzimmer sah aus, als hätte jemand in einer Ruine den Schutt in die Ecke geschoben, wahllos Werkzeug an die Decke gehängt und schließlich widerwillig Zentralheizung und fließend Wasser eingebaut. Außer der Fleischwurst gab es im Wohnzimmer noch einen Fernseher, der mitten im Raum stand, ein kaputtes Cello in der einen Ecke (der Hals war angebrochen und hing zur Seite), eine vertrocknete Zimmerpflanze in der anderen Ecke, einen schönen ovalen Tisch aus dunklem Holz und vor der Fleischwurst – wohl als Ersatz für einen Couchtisch – eine alte Waschmaschine, die auf die Seite gelegt war. Dazu kamen der ganze Kram, der von der Decke hing und der Pelz eines Waschbären oder Dachses oder irgendeines ähnlichen Tieres, der direkt vor dem Fernseher lag. Sie ist eine Art Künstlerin, erklärte Jenny, so in der Art. So in der Art? fragte ich. Ich seh’ sie nicht oft, sie ist verrückt, ich wüsste nicht, was ich alleine mit ihr reden sollte. Jenny zog mich dicht an sich heran, nahm mein Gesicht in beide Hände und küsste mich. Die Frau hat einen totalen Dachschaden, sagte sie schließlich. Hätte sie nicht so viel Geld, wär’ sie schon lange in einem Irrenhaus gelandet.

Nach einer guten Viertelstunde kam Jennys Mutter aus der Küche und setzte sich vor uns auf die Waschmaschine. Neben sich stellte sie eine riesige Schüssel mit dampfenden, köstlich duftenden Keksen. Als weder sie noch Jenny Anstalten machten, sich welche zu nehmen, hielt auch ich mich zurück. Sofort wandte sie sich mir zu. Über Sie weiß ich eigentlich nur, dass sie Sebastian heißen und in einem Verlag arbeiten, sagte sie. Schulbuchverlag, ergänzte ich, wir machen Schulbücher. Undankbare Zielgruppe, möchte man meinen, sagte sie, undankbar und stur. Ich unterrichte ja nicht, sagte ich, wir stellen nur die Hilfsmittel her. Eigentlich ist es meine Aufgabe, die Schulbuchautoren in bestimmten didaktischen Fragen zu beraten. Ein Helfershelfer, interessant, sagte Jennys Mutter. Dann werde ich mich jetzt mal ums Abendessen kümmern. Sie ließ uns mit der Keksschale allein und verschwand wieder in die Küche. Es war kurz vor fünf. Ich schaute ihr nach, sah dann zu Jenny hinüber. Sie hatte mir nie von ihrer Kindheit erzählt. Wie hatte diese schräge Frau es wohl geschafft, eine Tochter aufzuziehen? Jenny sah ihr sehr ähnlich. Auch sie hatte schwarzes, glattes Haar und dunkle Augen. Auch Jenny war groß, etwa 1,75 Meter groß und sehr schlank. Aber ihre Stimmte war anders. Fast alles, was sie sagte, klang wichtig, selbst wenn sie vor sich hin murmelte kam es mir vor, als spräche sie mich direkt an. Die Präsenz ihrer Stimme gab mir immer das Gefühl, sie stände dicht an meiner Seite, wenn sie auch fünf Meter entfernt von mir in einem Supermarkt mit einem Verkäufer redete. Als Jenny und ich uns das erste Mal trafen, war mir zuerst diese ungewöhnliche Stimme aufgefallen, eine Stimme, die den ganzen Raum ausfüllte und die, obwohl sie sehr, sehr leise sprach, auf alle Menschen in der Nähe eine starke Wirkung hatte.

Warum wolltest Du, dass ich mitkomme, fragte ich Jenny. Warum sind wir überhaupt hier, deine Mutter hat anscheinend nicht viel Zeit. Jennys Mund verzerrte sich zu dem, was ich als ein dankbares Lächeln interpretierte. Ich weiß, sie ist schrecklich, sagte sie. Aber ich muss sie was fragen und wollte nicht alleine kommen. Und was? Ach, Geld. Kein Problem, Geld kriege ich immer. Ich wollte nur nicht alleine hierher, das halte ich nicht aus. Wenn sie mit ihren verfickten Keksen kommt und auf dieser albernen Waschmaschine sitzt. Mit diesem Plastik-Dings und so... Sie war immer leiser geworden, flüsterte schließlich. Was würdest Du denn sagen, wenn das da deine Familie wäre? So eine bescheuerte Kuh, die wer weiß was in der Küche macht, nur Schwachsinn erzählt und keine zwei Minuten still halten kann! Sie verstummte. Die Tür zur Küche ging auf und ihre Mutter kam herein, auf beiden Handflächen balancierte sie große Platten mit belegten Brötchen. Kinder, schön, dass ihr da seid, rief sie und knallte die Teller neben die Keksschale auf die Waschmaschine. Endlich mal wieder Gelegenheit, ein paar hungrige Mägen zu füllen. Dann sah sie mich an. In diesem Verlag, in dem sie da arbeiten, werden da eigentlich nur Schulbücher verlegt? Ja, ausschließlich. Meine Jenny wollte auch mal Bücher schreiben, früher. Das hätte mir gefallen. Meine Tochter, die große Schriftstellerin. Aber später dann wollte sie nichts mehr davon hören. Jenny, oder? Warum eigentlich? Sie blickte ihre Tochter an, das erste Mal, seitdem wir hier waren, schauten sich die beiden direkt in die Augen. Die Mutter, auf ihrer völlig deplazierten Waschmaschine sitzend, eingekreist von Keksen und belegten Brötchen. Und die Tochter, die dunkeläugige Frau, die leicht nur vorgebeugt auf ihrem Platz saß, angespannt – ich konnte ihre Schläfen pochen sehen – wie eine Stahlfeder. Ich brauche etwas Geld. Etwas mehr als sonst. Ihre Mutter wandte sich den Brötchen zu und reichte mir ein Tablett. Ich nahm mir eins. Es schmeckte normal, der Käse frisch, nicht billig, nicht vergiftet. Geld? Natürlich. Bekommst du. Überweise ich dir gleich morgen. Es ist für ein Auto, sagte Jenny. Ich bräuchte so 10.000 Euro. Ja, kein Problem, sagte ihre Mutter. Kauend sah ich den beiden zu. Sie schwiegen sich an, offenbar war alles gesagt. Jenny stand auf und winkte mir zu. Wir müssen los, Sebastian hat noch Arbeit im Verlag. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, ging sie zur Haustür, wo sie wartete, bis ich mich verabschiedet hatte. Jennys Mutter war auf der Waschmaschine sitzen geblieben und hob eine Hand zum Abschiedsgruß. Schön, dass sie mich mal besucht haben, sagte sie. Jenny kommt so selten, das war sehr schön heute. Bis zum nächsten Mal dann, murmelte ich, ging zur Tür, nahm Jenny an die Hand und verließ mit ihr die Wohnung. Wir redeten erst, als wir auf der Straße standen. Das ist doch ein Scheißleben, hörte ich sie sagen.

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