Stichwort: Zeitvertrag

§ 6:

Auf dem Bürgersteig vor dem Haupteingang fand ich sie. Sie saß auf dem Bordstein, hatte ein Taschentuch vor den Kopf gepresst, telefonierte. Sie trug immer noch eine weiße Schürze, darunter einen dunkelroten Rock, Camper, das Oberteil ein dunkelgrünes Etwas mit langen, dünnen Ärmeln. Ihre Haare hatte sie hochgesteckt. Mit etwas Abstand kniete ich mich neben sie, wartete ab. Sie bemerkte mich, sah kurz zu mir herüber, telefonierte weiter mit einer Freundin oder Mitbewohnerin. Ich ruf noch mal an, dann legte sie auf. Was willst du? - Ich hab die Polizei angerufen. – Ja, haben die mir erzählt. – Hör zu, wegen eben, ich war völlig weg… Der Rest war Gestammel. Meine Stimme versagte, die Tränen schossen hoch, ich drehte mich weg von ihr. Ich wünschte mir, die Szene noch einmal durchleben zu können, wünschte, ich wäre im richtigen Augenblick losgestürmt und hätte ihn aus vollem Lauf zu Boden geworfen. Warum hatte ich nicht einmal das Richtige tun können, statt einfach nur dazustehen und zu beobachten? Die Tränen liefen an meinem Gesicht herunter, die schämte mich, war wütend, auf mich, den Scheißkellner, dieses schwitzende Arschloch, war wütend auf sie, warum auch immer. Ich stand auf. Bleib gefälligst hier sitzen, bis die Polizei kommt! Ihr Gesicht stand direkt vor meinem, ein dünnes Oval mit einer klaffenden Wunde links oben über der Augenbraue, die Augen zusammengekniffen, ihr Mund bebte. Setz dich hin! Auch ihre Augen schwammen in Tränen. Ich brauche deine verdammte scheiß Aussage, damit sie ihn bestrafen. Ich sank zurück auf das Pflaster, murmelte ein Schongut. Sie nahm das Taschentuch vom Kopf. Wie schlimm sieht es aus? Es war ziemlich übel, obwohl die Wunde über ihrem linken Auge klein war. Augenbraue und Wange waren mit braunem Blut verkrustet, Blutflecken waren überall auf der Schürze und ihren Schuhen verteilt. Der Rest war makellos, die funkelnden, dunklen Augen, das glatte, schwarze Haar. Hat aufgehört zu bluten, sagte ich, solltest du nähen lassen wegen Narbe und so. Und so? Auf und so kann ich verzichten, zischte sie. Soll es wachsen, wie es will.

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MEMOMARATHON - Zeitvertrag

Über ihren Vater redete Jenny nicht. Einmal, als ich versucht hatte, beiläufig etwas über ihn herauszufinden, hatte sie mich seltsam angesehen. Ich werde ihr Gesicht in diesem Augenblick wohl nie vergessen. War es Wut in ihren Augen? Oder Zorn? Es war nicht eindeutig und nur eines war klar: Keine weiteren Fragen. Das muss wohl der Anfang gewesen sein, Jenny zu verlieren. Ich weiß nicht, was sie sich vom Geld ihrer Mutter gekauft hatte, ein Auto jedenfalls nicht. Überhaupt spürte ich, dass sie etwas verbarg.

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Zeitvertrag

§ 5:

Am nächsten Tag ließ ich die Messe sausen und ging stattdessen in den Zoo. Es war später Vormittag und die einzigen Gäste neben mir waren Mütter, die ihre Kinderwagen über die gepflasterten Wege schoben. Der Himmel war grau. Hinter dem Vogelzwitschern, dem Gekreische der Affen und all den anderen Tierlauten, dem Schreien, Brüllen, Bellen, Blöken, hörte ich den Stadtverkehr um den Zoo herumbrausen, als ob das dunkle Autodröhnen das Geräusch des grauen Himmels war. [weiterlesen...]

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Zeitvertrag

§ 4:

Ich erwache durch lautes Geschrei. Es ist noch stockdunkel. Ich sehe Jenny am Fenster sitzen, die Tagesdecke um ihren Körper gehüllt, die Knie angewinkelt, das Kinn auf das rechte Knie gestützt. Sie schaut aus dem Fenster auf die schwach erleuchtete Straße. Die Laternen in meiner Straße hängen an langen Drahtseilen, die zwischen zwei Häusern über die Straße gespannt sind. Schon ein leichter Wind lässt sie hin- und herschwenken und sie werfen ein gespenstisches, unruhiges Licht auf den Asphalt. Wer schreit da, flüstere ich, um sie nicht zu erschrecken. - Ein Mann. Ein betrunkener Mann. Wohl ein Penner. - Beobachtest du ihn schon lange? - `Ne Weile. Ich lehne mich zurück und schließe die Augen. Was tut er? - Er sitzt auf der Türschwelle gegenüber und schreit. - Warum? - Er ist ein betrunkener Penner, darum. Keine Ahnung. Ich denke an unser erstes Zusammentreffen. Unseren Zusammenprall und öffne die Augen. Soll ich runter und mit ihm reden? Ja, sagt sie, das wäre gut. Ich bin müde und entsprechend schlecht gelaunt. Warum geht sie nicht selbst, wenn es ihr so wichtig ist? Und was soll ich tun, wenn er mit hoch will. - Dann sagst du nein. Aber er wird mit hochwollen, sage ich. - Bitte, sprich mit ihm. Sie tapert am Bett vorbei in die Küche. Ich ziehe eine Jeans an und einen Pullover und folge ihr. Sie steht im dunklen Flur an der Haustür und hält mir eine Flasche Cola hin. Hier. Ich nehme die Flasche und schlurfe das dunkle Treppenhaus hinunter. Hinter mir fällt die Wohnungstür ins Schloss, ich taste mich langsam vorwärts.

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Zeitvertrag

§ 3:

Die schönste Frau, die mir je begegnet ist, heißt Mascha Stern. Das erste, was ich von ihr sah, war ein Namensschild. „Dr. Mascha Stern“ stand darauf und links neben dem nüchtern gesetzten Namenszug war ein kleines Foto abgedruckt. Ich kniete auf dem Boden, hielt das Schild in der Hand und wurde mehrmals fast über den Haufen gerannt. Es war mit Sicherheit nicht der allerbeste Platz um auf dem Boden zu knien und sich kopfüber in ein Namensschild zu verlieben – ich kniete direkt hinter dem Haupteingang der Bildungsmesse. [hier gehts weiter...]

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Zeitvertrag

§ 2:

Einmal haben wir Jennys Mutter besucht. Das war im letzten November. Eines Nachmittags stand Jenny plötzlich in meinem alten Büro und fragte, ob ich mit wollte. Ich muss arbeiten, sagte ich. Was nicht stimmte. Weder musste ich arbeiten, noch arbeitete ich jemals wirklich. Meistens saß ich am PC, abonnierte, las, kündigte Newsletter und trank dazu Pfefferminztee. Ach komm schon, dann lernst du sie mal kennen. Sie ist total harmlos, sagte Jenny. Na sicher, entgegnete ich, und darum besuchst du sie auch nie. Weil ich’s alleine nicht aushalte. Zu zweit ist das bestimmt lustig. Ich hab ihr schon gesagt, dass ich dich mitbringe. Das war seltsam. Eigentlich war es nicht ihre Art, mir ihren Willen aufzuzwingen. Schließlich gab ich nach. [hier gehts weiter...]

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Zeitvertrag

§ 1:

Sie liegt in ihrem Bett und schläft, ihre Arme seltsam hinter dem Kopf verrenkt. Es ist mitten in der Nacht, ich sitze auf der Türschwelle, ein Bein angewinkelt, eins weit ausgestreckt und lese in einem Asterix-Comic. Die Leselampe auf dem Nachttisch ist kaputt, ebenso die Glühbirnen in der Küche und im Wohnzimmer. Ich habe das Licht im Flur angeschaltet und die Tür zum Schlafzimmer halb geöffnet. So kann ich lesen und sie anschauen, wann immer ich will. Mitten im Kampfgewühl erscheint Kleopatra vor dem gallischen Dorf. Sie sitzt auf einem pyramidengroßen Thronwagen, gezogen von unzähligen Sklaven und streckt die arrogante Nase in die Luft. Ich stehe auf, strecke meine tauben Beine, lösche das Flurlicht und gehe langsam zu ihr. Die einzige Lichtquelle ist nun die Laterne, die vor dem Fenster über der Straße hängt. Ich liebe dich, flüstere ich in ihr Ohr, streiche dabei ihr schwarzes Haar nach hinten und hoffe, dass sie mich hört. Ich liebe dich, Jenny. Vorsichtig lege ich mich neben sie, schiebe erst einen Arm unter ihren Rücken, dann ein Bein über ihre Beine und bewege sie so etwas zur Mitte des Bettes hin. Sie dreht sich auf die Seite, den Rücken zu mir. Fertig? murmelt sie. Ja, sage ich. Die Gallier haben gewonnen, wie immer, haushoch. Sind ja schließlich die Guten. Sie dreht ihren Kopf, ihre Augen sind geöffnet. Nicht wirklich spannend, oder? Die Römer haben das Dorf abgebrannt, diese Pissnelken, flüstere ich, das war knapp. Ich schließe die Augen und lege meinen Kopf an ihre Brust. Gute Nacht. Nacht. Ein Auto fährt unten vorbei, eine Kirchturmuhr schlägt, eine Gruppe von Leuten unterhält sich unter dem Fenster. Als ich noch alleine war, hat mich so etwas gestört.

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by ChrisTel (18.06.21, 22:49)
danke. hat mich gefreut!
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by Anonymus (23.06.20, 15:30)
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jute!
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by Anonymus (13.06.20, 12:08)
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(kann man ruhig hören. ist seehehr gut))
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