Stichwort: warschau liegt in polen
Ermüdungserscheinungen

Nein, ich stehe wirklich gerne um viertel vor sechs auf, um rechtzeitig in die Maske zu kommen. Besonders, wenn um diese Zeit eine Horde Erasmus-Jünger, von ihrer obligatorischen Clubtour zurückkehrend, an den Gittern in der ersten Etage hochspringt. Egal warum, einfach so. Guten Morgen! Der missbilligende Blick in der Maske: Was haben Sie mit ihrer Haut gemacht? Was er dann mit mir macht, sieht verdächtig nach Barbie aus. Augen auf, Augen zu, locker lassen, jetzt wieder atmen. Das Lipgloss bleibt am oberen Rand der Wasserflasche kleben. Die Flasche muss ich noch leer machen, gestern Abend hatte ich ein Bier zu viel.

Natürlich leiste ich gerne meinen Beitrag dazu, dass das polnische Volk einen angenehmen Start in den neuen Tag hat. „Kaffe oder Tee?“ – was für ein spritziger Name für ein Morgenmagazin. Sicher antworte ich zu nachtschlafender Zeit gerne auf möglichst oberflächliche Fragen. Ganz nach dem Willen des Herrn Direktor vom Pressebüro. Ich bin entzückt, auf dieser beigefarbenen Couch zu sitzen, hinter uns hellgrüne Wiesen, auf dem Tisch ein Meer gelber Tulpen, die reinste Frühlingsverschwendung, reiße meine Augen auf zaubere mein bestes Fernsehlächeln und spreche mich nachdrücklich-fröhlich für eine Verbesserung der gegenseitigen Beziehungen aus. Nein, Frau Merkel war sehr überzeugend. Schön, das mal von so jungen Menschen zu hören, den Politikern glaubt das ja keiner mehr. Ja, schön!

Die manierlichen Desserts, die in der orangefarbenen Plastikröhrenküche angerichtet sind, geben sich langsam aber sicher dem Megawattlicht hin. Der Fernsehkoch, dem man gerne glaubt, dass er auch mal eine isst, richtet die Erdbeere wieder auf, die im Schokomousse verschwinden will. Die Moderatorin probiert in der Werbepause schon mal an der Ecke, die man nachher auf dem Bildschirm sowieso nicht sieht. So, die Nächsten bitte, the show must go on. Um halb acht sitze ich im Büro, mein Schädel brummt immer noch.

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Der Babcia-Blick

Ich steige auf dem Weg zur Arbeit eine Station nach der Wendestelle in die Tram. Das hat den Vorteil, dass ich sicher einen Sitzplatz ergattere und mich darauf freuen kann, den ganzen Weg bis zum Sejm müde-glücklich über die geschenkte halbe Stunde aus dem Fenster zu starren. In Polen ist solche Freude aber immer mit Stress verbunden. Hier gibt es die Großmütter (babcias), die nicht zu Hause sitzen und von ihrer Rente Essen auf Rädern bestellen, sondern zuhauf in der Stadt unterwegs sind, um ihren Lebensunterhalt zu “organisieren”. Herauszufinden, ab wann eine polnische Dame eine babcia ist, erfordert eine Menge psychologisches Feingefühl. Ist sie es, fordert sie absoluten Respekt, ist sie es noch nicht, ist der Weg zu einer Kapitalbeleidigung nicht weit. Die Bewertung dieser Frage erfolgt nicht über Alter, graue Haare oder Tattrigkeit, sondern über die Sache mit den Sitzplätzen. Eine babcia kann erwarten, dass die organgefarbene Hartplastikschale, meine Dömäne privater Glückseligkeit, sofort und ohne Zögern geräumt wird, eine Dame würde sich darüber empören, hielte man sie für so alt, dass sie sich auf ihren Stilettos in der Tram nicht halten kann. Wer sich über diese Frage keine Gedanken macht und froh ist, sitzend in den Tag dämmern zu dürfen bekommt es also zumindest mit den babcias zu tun. Ich bin natürlich darauf vorbereitet und hefte meinen Blick entschlossen auf die zerbröckelnden postkommunistischen Fassaden hinter der Scheibe. Begehe ich aber den Fehler und schiele – mein schlechtes Gewissen, nur für Bruchteile einer Sekunde, Richtung Großmutter habe ich schon verloren. Jede, ausnahmslos jede beherrscht ihn, diesen Blick, der in die Knie zwingt, ein Blick, der die ganze bewegungslose moralische Autorität einer Nation im Rücken hat und sein Opfer mit zusammengekniffenen Zickenlippen in die schwankende Mitte der Bahn schaufelt. Sie setzt sich. Satisfaktion.

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