Zeitvertrag
Mittwoch, 28. Juli 2004
Zeitvertrag

§ 3:

Die schönste Frau, die mir je begegnet ist, heißt Mascha Stern. Das erste, was ich von ihr sah, war ein Namensschild. „Dr. Mascha Stern“ stand darauf und links neben dem nüchtern gesetzten Namenszug war ein kleines Foto abgedruckt. Ich kniete auf dem Boden, hielt das Schild in der Hand und wurde mehrmals fast über den Haufen gerannt. Es war mit Sicherheit nicht der allerbeste Platz um auf dem Boden zu knien und sich kopfüber in ein Namensschild zu verlieben – ich kniete direkt hinter dem Haupteingang der Bildungsmesse. [hier gehts weiter...]

Dr. Mascha Sterns Lächeln verursachte ähnliche Glücksgefühle in meiner Magengegend wie die Zitronensahntorte, die meine Mutter zu meinem 17. Geburtstag gebacken hatte. Ihr Lächeln verhieß die leichte, reuelose Süße von Biskuitboden, ihre Lippen den Geschmack von fruchtig-sahniger Ekstase, ihre Augen strahlten wie die Morgensonne über den Zitronenfeldern Kaliforniens. Meine ursprünglichen Ambitionen für den Messebesuch änderten sich urplötzlich. Die neue Aufgabe hieß, der verzweifelten Dr. Mascha das Namensschild hinterher zu tragen. Ich zog mir eine Din-A-4-große Farbkopie des Schildes und ließ sie über die Hallenlautsprecher ausrufen. Ich wartete lange.

Nach zwei Stunden hatte ich Ruth, die Frau vom Messeinfostand so gut kennen gelernt, dass wir uns duzten und uns mehr oder weniger ewige Freundschaft geschworen hatten. Sie war 34, vollschlank, hatte eine Scheidung und eine Fehlgeburt (in dieser Reihenfolge) hinter sich gebracht und lächelte mich fröhlich an. Sie hatte den Namen Mascha Stern alle zehn Minuten ausgerufen und zwischendurch eine Schachtel Zigaretten geraucht. Ihre Stimme war dennoch ungewöhnlich klar, nicht der typische Raucherbelag, nur alle halbe Stunde schüttelte sie ein Hustenanfall, der ihre Krankenkasse über eine Beitragserhöhung von einem halben Prozentpunkt hätte nachdenken lassen. Sie nannte mich Wonneproppen (was Angesichts ihrer Statur ein Witz war) und lachte mich aus wegen Dr. Stern. Und du kennst sie nur von dem Foto hier? Verrückter Bengel. Natürlich fand sie mich total süß. Ich mich auch, irgendwie. Jedenfalls spielte ich gekonnt den Romeo der Bildungsmesse und nach einer Dreiviertelstunde glaubte ich selbst daran. Ja, ich war verdammt romantisch. Denk mal drüber nach, Sebi (Nenn mich nicht Sebi!), hier laufen nur Lehrerinnen, Wissenschaftlerinnen und Dezernentinnen rum. Das hat doch den erotischen Charme von Sägespäne. Ruth mochte diesen Frauenschlag nicht. Bei mir dagegen löste der Begriff „Dezernentin“ herrlich schlüpfrige Assoziationen aus. Dr. Mascha Sterns Foto sah aus, als wäre sie eine verdammt gute Dezernentin. Wie gerne hätte ich von Ruth eine Zigarette geschnorrt, die Augen geschlossen und mir Mascha Stern in einem engen, mausgrauen Hauch von einem Kostüm vorgestellt, wie sie langsam die randlose Brille abnimmt und mich dezernentinnenhaft zur Rede stellt. Aber rauchen ging nicht (kleine Wette mit mir selbst) und Augen schließen wäre unhöflich gewesen, schließlich bemühte sich Ruth wirklich sehr um meine noch recht fragile Beziehung zu Dr. Stern. Trotzdem verlor ich kurz vor Mittag die Geduld. Ich dankte Ruth, ließ ihr zwei Visitenkarten da (eine zum „in Kontakt bleiben“, eine für Frau Stern, so sie ihre Hörgeräte jemals wieder fand) und fing an, die Stände abzusuchen. Am frühen Abend schaute ich auf dem Weg in mein Hotel ein letztes Mal am Informationsschalter vorbei. Ruth war nicht mehr da, auch keine der anderen Kolleginnen vom Vormittag, nur zwei junge BWL-Studenten-Aushilfstypen und eine dürre Vierzigjährige. Ob Ruth vielleicht eine Nachricht für mich hinterlassen hätte, ja, Moment, hier eine Notiz, das ist alles? Ja. Es waren drei Worte. Danke und M. Stern. Auf der Rückseite ihre Kontaktdaten. Es war die Visitenkarte eines Ausstellers für Mathematiklehrmittel. Dr. Mascha Stern war darauf zu lesen, Stand 75.

Als ich mit der Nachricht in der Hand Stand 75 aufsuchte, war Mascha Stern bereits gegangen, nur heute Morgen, ganz früh sei sie kurz da gewesen. Wann sie denn wiederkäme, morgen früh, danke, nein, Nachricht ist nicht nötig. Der Weg ins Hotel zog sich hin, die S-Bahn war rappelvoll mit Messegästen, ich verlief mich auf dem Weg vom Bahnhof zum Hotel und fand zu allem Überfluss den Fahrstuhl im Hotel defekt vor, so dass ich neun Stockwerke hoch laufen musste. Bei Stockwerk acht klingelte mein Handy. Am anderen Ende quäkte ein Stimmchen in einem Tonfall, als hätte man eine Kröte mit einem Reibeisen erschlagen. Ihr Name sei Stern, sie wollte sich bedanken etc. pp. … mal treffen … nein, sie hätte keine Durchsage gehört … die ganze Woche noch in der Stadt … ficken. Zumindest lief es darauf hinaus. Ich lehnte atemlos (vom Treppensteigen) am Geländer, kramte die gefaltete Farbkopie ihres Messeausweises aus der Tasche und versuchte krampfhaft, die herrlich grau kostümierte Dezernentin vor meinem inneren Auge erneut erstehen zu lassen. Stattdessen sah ich eine rollige Kröte mit Kehlkopfentzündung. Irgendwie gelang es mir, die redselige Dr. Stern auf ein nicht genau datiertes Treffen in den nächsten Tagen an ihrem Stand zu vertrösten. Wir vollzogen ein umständliches Abschiedritual, versicherten uns nochmals hochgradiger Neugier aufeinander und legten schließlich auf. Ich stapfte in mein Hotelzimmer und sagte der Minibar den Kampf an, sie sprang wahrscheinlich zurück in ihren Teich. Wir trafen uns am übernächsten Tag, kurz nachdem ich mich in Jenny verliebt hatte.

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ja, sowas liest man gerne.

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