Die Mitte zuerst
Montag, 18. Oktober 2004
Die Mitte zuerst

Eine Geschichte ging so: Und als er uns einmal erwischte, das gab ein Donnerwetter! Der olle Saufkopp, ganz klein sind wir geworden erst und dann gerannt, als er jedem von uns eine Ohrfeige verpassen wollte. Zuhause gab’s dann trotzdem Senge, weil der Saukerl natürlich gepetzt hatte. So wie an dem Tag hab ich se nie wieder gekriegt. Tat mir der Hintern weh. Aber besser ne Tracht vom Vater als vom Fischknecht, der kannte kein Maß, der hätte uns tot geprügelt. Als wenn’s seine gewesen wären spielte der sich immer auf. Wie der Herr Graf persönlich. So was Blödes. [read on...]

Am liebsten krallte sich der alte einige von uns, ließ sich eine Flasche Bier organisieren und verzog sich dann in eine Ecke, wo er ungestört fortfahren konnte. Seine Schwerhörigkeit machte ihn offenbar zum Sklaven der eigenen, holprigen Geschichten. Nur wenn er selbst erzählte, konnte er dem Gespräch folgen.

Riesige Biester schwammen da rum, man musste nur in die Reusen am unteren Wehr langen, schon hatte man einen oder zwei bei der Hand. Oft standen wir auch einfach nur am Ufer und schmissen mit Steinen nach ihnen, wenn sie abends an die Oberfläche kamen. Plomps! machte das. In einem Sommer pflasterten sie die Straße neu, weiß nicht mehr warum, vielleicht sollte der Hindenburg hier durchkommen oder ein anderes großes Tier, uns war das egal. Aber ne Menge Pflastersteine lagen auf einem großen Haufen ganz in der Nähe des Teichs, die nahmen wir immer und schmissen sie ins Wasser. Grob gehauenes Kopfsteinpflaster, das spritzte ordentlich, sag ich dir, die platschten ordentlich ins Wasser und machten große Kreise. Natürlich erwischten wir nie einen von den Karpfen, aber wir haben dann einen Wettbewerb draus gemacht, wer am schönsten werfen kann. An dem einen Ufer gab’s nen kleinen Hügel, wo das obere Wehr vom Mühlbach war, da stellte sich der Werfer mit einem anderen drauf und zwei oder drei andere Jungs standen an gegenüberliegenden Ufern. Man musste genau in die Mitte des Teiches treffen, der war ziemlich groß, sag ich dir, und die übrigen, der eine auf dem Hügel und die anderen am Ufer, die schauten genau, wie groß der Kreis war, den der Stein machte. Dazu musste das Wasser ganz still sein und man musste alles gut sehen können, darum ging das nur am Nachmittag. Da hat er uns dann erwischt. Und gebrüllt und gegrölt hat er, wir sollten die Fische in Ruhe lassen, und ist hinter uns her. Waren ja gar nicht seine eigenen, gehörten alle dem Gutsbesitzer, aber er musste sie zählen, wirklich, alle paar Wochen schloss er das obere Wehr und ließ so langsam das Wasser ab und dann zählte der die zappelnden Biester. Die Kunst beim Steinwerfen war es, den Stein in einem möglichst hohen Bogen genau in der Mitte des Teichs zu platzieren. Dann schlugen die Wellen manchmal gleichzeitig an alle Ufer, an denen die Jungs standen. ´Ne richtige Wissenschaft haben wir daraus gemacht, wir hatten ja Zeit, unendlich viel Zeit... Am Schluss konnte ich das richtig gut, war regelrechter Spezialist, meine Würfe landeten genau in der Mitte, das war das A und O, warten, bis die Oberfläche ganz glatt ist, dann mit hohem Bogen in die Mitte und warten.

Dann war er fertig und wartete, was wir dazu zu sagen hatten. Es musste nicht viel sein, ein anerkennendes Nicken, mehr erwartete er nicht. Also nickten wir anerkennend, während in unseren Köpfen noch Personen und Orte durcheinander schwirrten, was wussten wir schon von Hindenburg und Karpfen. Er erzählte, wie er Steine warf: Ohne tieferen Sinn, die Mitte zuerst.

Der Salon im ersten Stock war einer der offiziellen Treffpunkte in diesem hochgradig inoffiziellen Haus, an denen man sie herumstreichen sah. Manchmal saßen sie in der Küche um den kleinen, wackeligen Tisch herum versammelt, eine halbe Stunde später drängten sich einige auf dem überdachten Teil der Terrasse, rauchten Zigaretten und schauten dem Regen zu, wie er das umliegende Land langsam ertränkte und dann, später am Abend, fand man sich im Salon zusammen, redete, trank, schwieg. Jetzt, im späten Herbst, war der alte, den alle nur Otto nannten, fast den ganzen Tag über hier zu finden, vormittags mit einer Tasse Kaffee und einem Stapel Kreuzworträtsel bewaffnet, ab dem frühen Nachmittag mit einer Flasche Bier und meistens in Gesellschaft anderer Hausbewohner, denen er seine wirren Geschichten erzählte. Auch der war hier nur Gast, zumindest keiner vom Personal, ein Dauergast, der im zweiten Stock ein kleines Zimmerchen bewohnte und sich im Sommer um den Garten kümmerte. Seine Geschichten kamen stoßweise, ohne Vorwarnung, mitten in einer Erklärung zum Zeitplan der Putzfrau oder zur Unvorhersehbarkeit der Abendessenszeiten. Er war es, der meine Kollegen und mich vor einigen Tagen an der Tür begrüßt hatte, uns hereingelassen und die Formalitäten mit der Rezeptionistin erledigt hatte. Ich war mir fast sicher, dass er uns als willkommene Gelegenheit benutzte, sich ein wenig länger mit ihr zu unterhalten, als es die Anmietung von vier Schlafräumen erfordert hätte. Er zwinkerte etwas zu häufig mit den kleinen, strahlenden Augen, kam ihr mit dem schwerhörigen Ohr etwas zu nahe, als sie ihn über die Übernachtungsbedingungen aufklärte und nickte ein wenig zu heftig, als sie ihm unsere Schlüssel aushändigte. Es bestand kaum ein Zweifel darüber, dass er mit ihr flirtete. “Sie ist ´ne ganz korrekte, musst du wissen”, flüsterte er mir zu, als wir zu den anderen gingen, “ihre Regeln sollte man besser einhalten, da versteht sie keinen Spaß.” Die Rezeptionstheke stand weit zurückgesetzt in einer Eingangshalle, die im Vergleich zum Rest des Hauses unverhältnismäßig groß erschien. Das Fenster hinter der Theke erinnerte wegen der in Blei gefassten bunten Glasbausteine an ein Kirchenfenster, durch das gedämpftes Licht in den Raum fiel. An den Wänden rechts und links der Theke hingen lange Teppiche, auf denen seltsame Motive abgebildet waren, mythische Naturdarstellungen in schwarz-weißer Farbgebung, so dass sie wirkten, als wären sie in Stein gemeißelt. Hinter der Theke stand, ebenfalls wie gemeißelt, eine alte Frau mit weißem Haar, das sie zu einem Dutt zusammengesteckt hatte. Mit ihren dunklen Knopfaugen und dem leicht nach vorne stehenden Kiefer wirkte sie wie ein kampflustiger Mops. Niemand sprach sie an, wenn er nicht wirklich eine wichtige Frage hatte. Ihre Antworten bellte sie mit breitem westfälischen Akzent. Ihr Name war in schwarzen Großbuchstaben auf ein messingfarbenes Schild geklebt, das neben der altertümlichen Rezeptionsklingel aufgestellt war wie eine Drohung: A. PÖLKER.

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Cooler Stil. Mitte - Ende der 20er?

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ende der 20er. interessant. ja.

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Oder nicht, Hindenburg. War das kein Link?

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doch, doch. hab ja gar nicht gemeckert. abwarten. heute abend kommt teil 2.

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