Neoetatistisches Ökonomengeschwurbel
Mittwoch, 20. Oktober 2004
Neoetatistisches Ökonomengeschwurbel

1. Abschnitt: Die Mitte zuerst

Unsere Anwesenheit in der Ständigen Vertretung, angeblich dem einzigen Hotel am Ort, war das Produkt eines schlechten Witzes und einer großen Portion Sentimentalität. Die zwei Michaels, Nikolai und ich reisten seit mehreren Monaten durch die Republik, um marode Strukturen aufzubrechen und Optimismus zu verbreiten. Im Klartext bedeutete dies, dass wir uns die Leiter der lokalen Geschäftsstellen vornahmen, ihnen eine Gehirnwäsche in positivem Denken verpassten und in unseren Abschlussberichten ihre Versetzung empfahlen. Unser Auftraggeber, die Bundesagentur für Arbeit, war mehr oder weniger am Ende. Die Geschäftsstellen waren notorisch unterbesetzt, das Personal den neuen Herausforderungen nicht gewachsen. Kurz vor der Pensionierung stehende, mürrische Mitarbeiter beschränkten sich in der Regel darauf, den Mangel zu verwalten und von einem Landhaus in Ostpreußen zu träumen. Die Kontakte zu den örtlichen Betrieben beschränkten sich vielerorts auf den Austausch gebrüllter Schmähungen. Viele Firmen hatten bereits geschlossen oder waren abgewandert, dorthin, wo es Arbeitskräfte gab. Hier gab es keine. Auf zehn Stellen kam ein Bewerber, der nicht selten in letzter Minute ein lukratives Angebot aus Kiew oder Wolgograd bekam. [read on]

Vor einem guten Jahr hatte der zuständige Minister nach drei Jahren des Aufbäumens der Regierung gegen das scheinbar Unvermeidliche das Handtuch geworfen. Niemand wollte ihm nachfolgen, schließlich übernahm eine nette, aber phlegmatische Staatssekretärin namens Rich den Posten. Die erste und bisher einzige Handlung, zu der sie sich hinreißen ließ, war die Ausschreibung eines Rettungsprogramms für die besonders morschen Regionen des Landes. Mein Chef, Sebastian Petrow, mailte mir an einem Freitag den Ausschreibungstext mit der lakonischen Bemerkung “Neuer Auftrag, Albert. Zehn Seiten neoetatistisches Ökonomengeschwurbel werden reichen.” Da ich meiner Freundin ein Herr-der-Ringe-Wochenende versprochen hatte, lieferte ich sieben Seiten, die Petrow auf vier herunterkürzte. Wir gewannen die Ausschreibung, offenbar waren wir die einzigen ernstzunehmenden Bewerber. Petrow klopfte mir auf die Schulter und drückte mir eine SNCF-Netzkarte erster Klasse in die Hand. “Die wirst du brauchen. Nikolai leitet das Team. Sucht euch ein paar brauchbare Leute und schreibt gesalzene Rechnungen.” Unsere Termine im Ministerium kamen mir derart skurril vor, dass ich nach einigen Wochen rote Stellen an den Armen hatte, so oft musste ich mich kneifen, um mich des Realitätsgehalts dieser Erlebnisse zu vergewissern. Die Staatssekretärin, ihre vier Dezernenten, das ebenerdige Bungalow des Ministeriums für Wirtschaftliche und Strukturelle Weiterentwicklung am Rande des Wannsees, all dies wirkte auf mich wie eine schlecht recherchierte Geschichte. Doch es war die Realität. Nach der Privatisierung der meisten noch verbliebenen staatlichen Aufgaben hatte die liberal-ökologische Regierungskoalition vor fünf Jahren das Steuer herumgerissen und die Reentwicklung Deutschlands vom Parlament zum Staatsziel erklären lassen. Den vier noch existierenden Ministerien, dem Rehabilitationsministerium, dem Ministerium für ostpreußische Angelegenheiten, dem Fürsorgeministerium, und dem Ministerium gegen Jugendgewalt wurde als fünftes Ressort das Ministerium für Wirtschaftliche und Strukturelle Weiterentwicklung hinzugefügt. Der erste Minister, überstand lediglich vier Wochen, der zweite verabschiedete sich nach knapp drei Jahren. Frau Dr. Rich, so schien es, würde etwas länger durchhalten. Sie hatte keinerlei Ambitionen in Brüssel oder in der Wirtschaft, dafür 50 Kilogramm überzähliges Sitzfleisch. Sie überließ uns sämtliche Entscheidungen bei der Planung des Notfallprogramms, nur bei der Festlegung des Menüplans zeigte sie sich beratungsresistent. Anderthalb Wochen lang ernährten sich die meisten Meeting-Teilnehmer von großen Fleischbrocken, Vegetarier wie ich schleusten heimlich Müsliriegel in den Tagungsraum. Nach Abschluss der Konsultationen rekrutierten wir in ganz Europa neue Consultants und teilten ihnen die einzelnen Regionen zu, die traurigste Gegend übernahmen wir auf meinen Wunsch hin selbst. Der so genannte Rentnergürtel zwischen dem Ruhrgebiet, Hannover, der westpolnischen Grenze und Erfurt bestand aus alten Menschen, verwelkenden Städte und - unscheinbar, überaltert, verrottet - meiner Heimatstadt, in der im November 2029 für zwei Wochen ein Consultant-Team von Schiller, Petrow & Partner strandete. In unserem Zeitplan nahm der Besuch der Außengeschäftsstelle Bünde der Arbeitsagentur Herford genau einen Tag ein. 9:00 Uhr: Empfang durch den Geschäftsstellenleiter; 9:30 – 12:30 Uhr (inkl. 15-minütige Kaffeepause): Meeting mit allen Bediensteten und Vorstellung des Reentwicklungskonzeptes heimaterde reloaded; 12:30 – 14:00 Uhr: Mittagspause; 14:00 – 15:30 Uhr: Trainingseinheiten in Kleingruppen I; 15:30 – 16:00 Uhr: Kaffeepause; 16:00 – 17:30 Uhr: Trainingseinheiten in Kleingruppen II; 17:30 Uhr: Schlussmeeting; ca. 18:15 Uhr: Abschlussgespräch mit der Geschäftsstellenleitung, danach Abreise. Bis kurz nach 18:00 Uhr lief alles nach Zeitplan. Das Trösten eines in Tränen aufgelösten Geschäftsstellenleiters kostete Nikolai lediglich fünf Minuten extra, um kurz nach 19:00 Uhr machten wir uns auf den Weg zum Bahnhof. Wir alle brauchten frische Luft und beschlossen, zu Fuß zu gehen.

Nikolai schlenderte neben mir her, die Michaels folgten in einigem Abstand. Ein frischer Nordwestwind wehte ihre Diskussion in Bruchstücken zu uns herüber. Soweit ich es verstand, versuchte Mick, Michi die Parallelen zwischen Bartok und den Spin Doctors zu erklären. Obwohl beide Namen mir dunkel bekannt vorkamen, konnte ich keiner der Bands einen konkreten Song zuordnen. Mick und Michi, beide Anfang dreißig und seit etwa zwei Jahren bei SPP, hatten Lebensläufe, die ihren Werdegang als eine Mischung aus solidem Studium, Surfurlaub und radikaler Anarchie beschrieben. Sie waren keine Freunde großer Konzepte und lasen Briefings prinzipiell nur, wenn man ihnen mit der Überprüfung ihrer Spesenkonten drohte. Dafür vollbrachten sie wahre Wunder mit dem Moderatorenkoffer. Mick benutzte Flipchart und Wachsmaler wie der späte Picasso, Michi galt als König bei der Erstellung von Mindmaps. Jeder noch so tumbe Seminarteilnehmer war am Ende eines Tages überzeugt, wahrhaft großes geleistet zu haben. Nikolai und ich schwiegen. Als Leiter des Teams musste Nick am meisten von uns reden und hatte sich angewöhnt, in der ersten halben Stunde nach jedem Seminar schweigend an einem Halsbonbon herumzulutschen. Die Dämmerung war schon fortgeschritten, die Innenstadt lag schemenhaft rechts und links der schlecht gepflasterten Straße. Meine Augen streiften über die grauen Häuser, in deren Untergeschoss meist ein Geschäft untergebracht war. Ich kannte jedes einzelne Gebäude und erinnerte mich an die Namen der meisten Läden, es hatte sich kaum etwas verändert in den zehn Jahren, die ich nicht mehr hier gewesen war. Und doch wirkte alles seltsam fremd. Die Stadt war schäbiger geworden. Einige der Straßenlaternen flackerten, der Putz der meisten Häuser wies grobe Risse auf. Selbst die kahlen Bäume, die aus dem Pflaster herauswuchsen, wirkten wie billige Theaterkulissen. Der Books-on-demand-Shop war mit Wellblechresten vernagelt, in den leeren Citylight-Konsolen klebten Zettel mit Telefonnummern und den zaghaften Aufforderungen “Hier könnte ihre Werbung leuchten”. Die Schaufensterauslagen, die ich erkennen konnte, wirkten verstaubt und altmodisch, als wäre sie eine lästige Pflicht, der man sich beugte, ohne sich an ihren Sinn zu erinnern. Nur die orangen Notrufterminals wirkten sauber und gepflegt und - klarer Fall – es waren mehr geworden. In allen Städten des Landes waren die aktiven und passiven Sicherheitsvorkehrungen in den letzten Jahren massiv verstärkt worden. Zwar war die Gesamtkriminalität seit 20 Jahren stetig zurückgegangen, aber die Angst davor war explodiert. Es war die Angst der Alten, derer, die am wenigsten davon betroffen waren. Die alten Menschen hatten eine Scheißangst vor allem, was sie nicht einkochen, abschleifen, wegschnibbeln oder mit Hilfe ihres Steuerberaters abschreiben konnten. Und sie waren in der Mehrheit. Als die alte Regierung vor vielen Jahren eine Aufklärungskampagne startete, in der sie auf die geringen Vikimisierungsrisiken hinwies, die jemand hat, der höchstens einmal am Tag aus dem Haus geht und den eine Sicherheitstür im Wert von 10.000 Euro schützt, wurde sie abgewählt. Die neu eingesetzte liberal-ökologische Koalitionsregierung, der man in sonstiger Hinsicht durchaus gesunden Menschenverstand unterstellen konnte, errichtete ein eigenes Ministerium gegen Jugendgewalt und stellte den Kommunen riesige Geldsummen für den Bau von Notrufsäulen und Überwachungskameras zur Verfügung. Trotz vieler unpopulärer Einschnitte in anderen Bereichen, blieb sie für inzwischen drei Legislaturperioden im Amt. Ihre Wahlgeschenke leuchteten in grellem Orange in Abständen von 50 Metern an jeder Straße.

Der kleine Bahnhof war ausgestorben. Unser Zug kam nicht. Es kam überhaupt kein Zug in der halben Stunde, in der wir warteten. Die Infosäule am Bahnsteig flackerte etwas, aber sie funktionierte. Als ich den Hörer abnahm und bei der Störungsauskunft der SNCF-Deutschland anrief, erntete ich nur ein zynisches Lachen. “Schauen Sie in die Nachrichten, junger Mann und fragen Sie in einer Woche noch mal nach!”. Die Hauptnachrichten-Seite des Terminals bestand nur aus einer Meldung:

“A.I.” bekennt sich zu Bombenattentaten
Anschläge auf SNCF-Strecken fordern bis zu 500 Menschenleben – Bahnverkehr deutschlandweit lahmgelegt.

 

BERLIN. Die schweren Anschläge auf zahlreiche Strecken der SNCF [mehr dazu hier] gehen offenbar auf das Konto der bisher unbekannten Aktivistengruppe “A.I”. In einer Mail, die zeitgleich mit dem ersten Anschlag an Europol und verschiedene Nachrichtendienste geschickt wurde, bekennt sich “A.I.” zu allen 26 Anschlägen und droht mit weiteren Aktionen. Motive oder Forderungen der Gruppe waren aus dem Schreiben nicht ersichtlich. Auch die Bedeutung der Abkürzung A.I. ist bisher nicht geklärt. Unbestätigten Meldungen zufolge soll A.I. für “Amnesia International” stehen, was als Verhöhnung der Menschenrechtsorganisation "Amnesty International” gedeutet wird. Weder Europol noch lokale Polizeistellen wollten bisher Stellung zu dem Schreiben nehmen. Allerdings wird dringend davon abgeraten, bis zu einer
 
offiziellen Entwarnung öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Die SNCF stellte ihren Bahnverkehr bis auf weiteres vollständig ein. Um etwa 19:00 Uhr waren innerhalb weniger Minuten deutschlandweit Anschläge auf 26 Bahnstrecken verübt worden, darunter auch zahlreiche Hochgeschwindigkeitsstrecken. Zwei TGW wurden direkt von einer Bombe erfasst, mehrere Regionalzüge entgleisten auf beschädigten Streckenabschnitten. Nach ersten Angaben der SNCF befanden sich allein in den völlig zerstörten TGW mindestens 500 Fahrgäste. Wegen der einsetzenden Dunkelheit und Temperaturen um Null Grad gestalten sich die Bergungsarbeiten zunehmend schwieriger. Experten befürchten hunderte von Todesopfern.

“Dann sind unsere Netzkarten ja wohl wertlos”, hörte ich Nicks Stimme hinter mir. “Lass uns einen Wagen mieten.” Ich trat ein paar Schritte zurück, um Michi und Mick ans Terminal zu lassen. Mir fielen die Erzählungen meines Vaters über den 11. September 2001 an. Wie er stundenlang mit offenem Mund gelähmt und ratlos vor dem Fernseher gesessen und Nachrichtenmoderatoren dabei beobachtet hatte, wie sie gelähmt und ratlos auf ihre Monitore starrten. Doch das hier war näher, bedrohlicher und betraf uns ganz direkt. Einige Meter hinter mir stand eine Bank, auf der eine dunkle Gestalt saß, ein älterer Herr, von dem ich hätte schwören können, dass er vor einigen Sekunden noch nicht da war. Ich setzte mich neben ihn und sprach ihn an: “Haben sie es schon gehört? Das mit der Bahn...?” “Ja”, sagte er mit einer überraschend vollen Stimme, und: “Willkommen in meiner Welt.” Ein Spinner. Mick und Michi hatten die Meldung inzwischen ebenfalls gelesen und berieten mit Nikolai über alternative Fortbewegungsmöglichkeiten. “Nicht leicht zu beeindrucken, ihre Freunde”, sagte der Mann neben mir. “Gehört zum Anforderungsprofil”, hörte ich mich antworten. “Drüben vor der Kreuzung nach Dünne raus hat’n Schwerlaster die Unterführung zerlegt”, bemerkte er “Dauert ne Weile, bis da wieder Züge drüber fahren können.” “Nein, ich meine die Anschläge, haben Sie davon nichts mitbekommen!?” rief ich. “Ach so, das. Doch. Wolln se n Happen Schweinefett auf den Schrecken?” Er wickelte ein riesiges Stück Schwerte aus einem Fetzen mit Fett getränktem Butterbrotspapier. Offensichtlich war er verrückt. Ich stand auf und ging zu den anderen. “Wir werden jawohl irgendwie einen Mietwagen auftreiben können”, sagte Nick gerade. “Oder meinetwegen ein Taxi. Muss doch irgendwas geben in dem Kaff hier! Alb, sagtest Du nicht, dass Du aus der Gegend hier kommst? Wird doch hier irgend ne alternative Fahrgelegenheit geben.” Es war mir egal. Ich zuckte mit den Schultern. “Jemand `n Stück Schwarte?” Der ältere Herr von der Bank stand neben Nick und hielt ihm das Butterbrotspapier hin. Nick und die Michaels schauten ihn verständnislos an. “Drüben vor der Kreuzung nach Dünne raus hat’n Schwerlaster die Unterführung zerlegt”, sagte er, “das ist alles.” Mick schüttelte heftig den Kopf. “Hier, Mann, lesen sie doch selbst! Es gab einen Terroranschlag!” Der Mann lächelte müde. “Darf ich ihren Namen erfahren?” “Michael Beckstein. Hilft Ihnen das weiter?” “Ja, durchaus. So kann ich Ihnen noch einmal ganz persönlich mitteilen, Herr Michael Beckstein, dass drüben vor der Kreuzung nach Dünne raus, oder, wenn sie’s ganz genau wissen wollen, an der Stelle, an der die Gerhard-Hauptmann-Straße die Bahnstrecke kreuzt, ein Schwerlaster die Unterführung zerlegt hat. Es war ein sehr, sehr großer Laster der von einem sehr, sehr durchgeknallten Fahrer gelenkt wurde. Die SNCF-Ingenieure fürchten um die Statik der ganzen Brücke und haben deshalb den Bahnverkehr weiträumig umgeleitet. Mein Name ist Neilon Lonkritz, Künstler und Chefredakteur des Bölkers, eines hiesigen Käseblattes. Gerne einfach Neilon. Ich bin gerne bereit, den Herren ein angemessenes Nachquartier zu verschaffen und könnte Ihnen auf dem Weg dorthin einiges über mein aktuelles Projekt, die Nicht-so-wirklich-vollkommen-seriöse-Infosäule erzählen. Einverstanden?”

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Man erkennt eine Struktur. Man kann sich des Eindruckes einer unterschwelligen Aufforderung nicht erwehren. Gewisse Städte harren ihrer Geburt, Bürger verlangen nach ihrer Identität.
Gelähmt vor begeisterter Neugier erwarte ich den nächsten Spannungsbogen, den man auf mich richtet...

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Uuuuund... noch'n Podcast hier: https://im-moor.net
(kann man ruhig hören. ist seehehr gut))
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