Donnerstag, 21. Oktober 2004
Heimaterde reloaded
Albtraumjaeger
21:25Uhr | tag: Die Staendige Vertretung
1. Abschnitt: Die Mitte zuerst 2. Abschnitt: Neoetatistisches Ökonomengeschwurbel 3. Abschnitt: Scheiß neue Energien Die Aufgaben im Team waren klar verteilt. Nikolai, Senior Consultant bei Schiller, Petrow & Partner, regelte den Großteil der operativen Schritte eines Besuchs. Sein Sekretariat übernahm die Termin- und Routenplanung, telefonierte mit den lokalen Geschäftsstellen der Bundesagentur und organisierte die Zusammenführung der einzelnen Teamberichte zu einem monatlichen Feedback an das Ministerium. Er sprach mit den Geschäftsstellenleitern und zeichnete die Berichte ab. Mit Anfang vierzig war er der älteste von uns, ein drahtiger, schwarzhaariger Pragmatiker mit zwanzig Jahren Berufserfahrung. Unter seinem Kurzporträt im Internet fand man außer einem beeindruckenden Lebenslauf auch seinen Leitspruch: Geht irgendwie trotzdem. Er entstammte einer Werbekampagne der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands aus dem Jahr 2010. Die meisten Kollegen nannten ihn Nick, Sebastian Petrow und Jürgen Schiller nannten ihn entweder Nikolai oder alte Rampensau. [read on] Mick und Michi, die beiden Michaels, moderierten die Workshops am Nachmittag. Sebastian Petrow war auf die beiden aufmerksam geworden, als sie im Rahmen eines Laienimprovisationstheaters dem begeisterten Publikum seitenlange Passagen aus Mein Kampf beibrachten. Er ließ ihnen einige Monate lang das petrowsche Korrelat zu moralischer Führung angedeihen und hetzte sie dann unter Aufsicht erfahrener Consultants auf die Kunden. Ihre Arbeitsweise wirkte wie eine Mischung aus Maltherapie und Hypnose. Micks Vorbilder waren Siegfried und Roy, Michis Vorbild war Mick. Mein Hauptpart war die programmatische Rede am Vormittag. Das Paper für das Ministerium hatten wir zu einer zweistündigen Rede mit dem Titel heimaterde reloaded aufgepustet. Der Zweck dieser Rede war es, die Grundhaltung der Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit von Eh-alles-im-Arsch ein paar Schritte in Richtung Rock’n’Roll zu bewegen. Waren sie erst mal auf dem Weg zur Tanzfläche, wurden sie nach dem Mittagessen von Mick und Michi ein paar mal übers Parkett gewirbelt und waren hoffentlich entsprechend eingenordet, um unser Restrukturierungsprogramm umzusetzen. Die Grundidee vom heimaterde reloaded war simpel. Im Internet hatte ich alte Stadtmarketingkonzpete aus den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts gefunden und eine ebenfalls recht alte Idee damit verknüpft: Die Gründung von Bürgerstiftungen. In einer solchen Stiftung taten sich wohlhabende Bürger einer Kommune zusammen, stifteten Geld in einen gemeinsamen Fonds und finanzierten damit gemeinnützige Projekte in der unmittelbaren Umgebung, für die in den öffentlichen Haushalten kein Geld vorhanden war. Vor dreißig Jahren, als man mit einiger Mühe versucht hatte, dieses in den USA entstandene Konzept nach Deutschland zu importieren, war das Projekt nur in weniger Städten erfolgreich. Letzten Endes kam in den meisten Kommunen nicht genügend Kapital zusammen, um die recht hohen Fixkosten der Bürgerstiftungen auf Dauer zu finanzieren. Unsere Idee war es nun, einen neuen Versuch der Gründung von Bürgerstiftungen zu übernehmen und die Aufgaben der Verwaltung und des Fundraisings, also der Kapitaleinwerbung, der Bundesagentur für Arbeit zu übertragen. Die örtlichen Geschäftsstellen der Bundesagentur waren untereinander hervorragend vernetzt und im Gegensatz zu den maroden Stadtverwaltungen finanziell recht gut ausgestattet. In einem ersten Schritt sollten die Arbeitsagenturen in Zusammenarbeit mit den kommunalen Verwaltungen eine groß angelegte Werbekampagne für die Gründung von Bürgerstiftungen mit dem Arbeitstitel Bürger für Arbeit starten. Der genaue Name der Stiftung war den Kommunen selbst überlassen. Weiterhin sollte in jeder Stadt ein Botschafterteam geschult werden, das in die Rentnerkolonien in Ostpreußen und in die Ukraine entsandt wurde, um ehemalige Bürger der Stadt, die nun auf Gutshöfen und Seniorenhäusern im Osten residierten, ebenfalls zu einer Zustiftung zu bewegen. Privates Vermögen war sowohl in den Kommunen als auch in den Kolonien reichlich vorhanden, nur lag es auf schlecht verzinsten Sparkonten oder wurde in asiatische Wachstumsaktien investiert. Das sollte mit heimaterde reloaded geändert werden. Durch die Zinsen aus Grundkapital der Bürgerstiftungen sollten vor allem zwei Dinge finanziert werden: Kommunale Studienstipendien und Niederlassungsanreize für junge Unternehmer. Im Rahmen der Stipendien wurde Studierenden die volle Erstattung ihrer Studiengebühren an angesehenen Universitäten sowie ein sehr angemessener Lebensunterhalt garantiert, wenn sie sich verpflichteten, während des Studiums ein Praktikum im außereuropäischen Ausland und eins in der Stadt zu absolvieren, von der sie finanziert wurden. Zudem mussten sie sich dazu sich bereit erklären, fünf Jahre in der Region zu arbeiten, aus der ihr Stipendium finanziert worden war. Verließen sie die Stadt vorher, mussten sie das Stipendium in kleinen Raten zurückerstatten. Blieben sie fünf Jahre in der Stadt wurden sie bevorzugt bei der Vergabe von Niederlassungsanreizen behandelt. Wer sich innerhalb der Stadtgrenzen selbständig niederließ, erhielt einen zinslosen Startkredit und für fünf Jahre einen Gewinnzuschuss. Für jeden verdienten Euro bekamen er oder sie fünfzig weitere Cent von der Stiftung. Natürlich konnten die Stiftungen diese Aufgaben nicht allein finanzieren. Jede Stiftung konnte in den ersten zehn Jahren ihres Bestehens einen Matching-Fund einrichten. Für jeden Euro, den die Stiftung von Bürgern oder ehemaligen Bürgern einwarb, erhielt sie einen weiteren Euro vom Ministerium für Wirtschaftliche und Strukturelle Weiterentwicklung. Dabei wurde den Stiftern ein besonderer Anreiz gegeben: Jeder aus den Mitteln der Bürgerstiftung finanzierte neu gegründete Betrieb musste nach fünf Jahren erfolgreicher Arbeit zehn Prozent seiner Besitzanteile als kommunale Aktien ausgeben, auf die Stifter ein Vorkaufsrecht zu einem besonders günstigen Preis besaßen. Mit ein bisschen Glück konnten sich so die Stifter eine weitere Finanzierungsquelle für ihre Alterssicherung erschließen. Wenn der Plan aufginge, würden durch diese Maßnahmen frisches Kapital und junge Arbeitskräfte zurück nach Deutschland geholt. Die Stiftungen hatten große Freiheiten in der Gestaltung ihrer Kampagnen und standen zueinander in einem gesunden Konkurrenzverhältnis um neue, junge Bürger. Gleichzeitig wurden die kommunalen Verwaltungen durch die Stiftungen als neue lokale Macht deutlich entmachtet. Das größte Problem war es, die Maßnahmen gegenüber der Wettbewerbsbehörde in Brüssel zu rechtfertigen. Bereits bei Bekanntgabe der ersten Planungen hatten mehrere Regierungen Bedenken angemeldet. Doch das Prüfverfahren lief noch mindestens zwei Jahre. Zwei Jahre, in denen Tatsachen geschaffen werden konnten Das Konzept kostete den Staat zunächst einen Haufen Geld. Ich hatte es an einem einzigen Freitagabend zusammengeschustert und wir alle waren sicher, dass nicht alles nach Plan funktionieren würde. Bereits während der Konzeption hatte ich mich einige Male gefragt, warum mir die ganze Zeit Begriffe wie “Kettenbrief”, “Pyramidenspiel” und “Fass ohne Boden” im Kopf herumschwirrten. Doch Frau Dr. Rich hatte es geschluckt mit Haut und Haar und einigen dicken Fleischbrocken zum Runterspülen. Als Nikolai an unserem ersten Morgen in der Ständigen Vertretung im Speisesaal erschien, war er überdurchschnittlich gut gelaunt. Es war erst kurz vor sieben und wir waren die ersten beim Frühstück Noch während er sich den Teller mit Rührei belud, gab Nikolai mir einen Lagebericht. “Hab heute Nacht ne Mail bekommen. Es gibt Probleme. Irgendein Verwaltungshans im Ministerium hat seinen Taschenrechner wieder gefunden. Die glauben auf einmal, heimaterde wird zu teuer. Die Chefs wurden nach Berlin bestellt.” “Es ist verdammt teuer.” “Etwas mehr Rückgrat. Es ist dein Konzept.” “Es stand immer unter Finanzierungsvorbehalt. Hab ich auch immer gesagt.” “Als wenn irgendjemand die Effekte seriös kalkulieren könnte.” “Der Typ im Ministerium glaubt anscheinend, dass er’s kann.” “Der Typ im Ministerium ist Schneematsch, wenn Jürgen mit ihm fertig ist.” “Und du freust dich wie ein Schneekönig, scheint’s.” “Na sicher. Solange die Jungs die Sache geregelt haben, läuft an der Front erst mal gar nichts mehr. Alle weiteren Seminare sind bis zur Klärung aller finanziellen Fragen verschoben.” Ein Schwall frischer Müdigkeit überfiel mich. Ich unterdrückte ein Gähnen. Die Aussicht auf ein paar Tage Urlaub war äußerst angenehm. “Ist dir klar, dass das Zeug auf deinem Teller echtes Rührei ist?” fragte ich. “Da ist Cholesterin für drei Herzinfarkte drin.” “Ich wurde in der DDR geboren. Wir haben auf fünf Generation Nachholbedarf.” „Du warst ein Baby, als die Mauer fiel.“ „So was vererbt sich. Immer wenn ich eine Menschenschlage sehe, spüre ich diesen Drang, mich anzustellen.“ “Komm schon! Auch wenn Geschichte nie meine Stärke war: Rührei gab’s auch in der DDR reichlich.” “Aber gegessen hat’s doch keiner! Wie soll man bitteschön Rührei ohne Banane runterkriegen?” Nikolai schälte eine Banane und schnitt sie in dünnen Scheiben auf sein Ei. “Nick, du bist pervers.” “Jedenfalls haben wir erst mal Zwangsurlaub.” “Was sollen wir tun?” fragte ich. “Bleiben wir hier oder schickt die Firma uns einen Wagen?” “Das liegt bei uns. Im Prinzip können wir auch hier bleiben. Unsere nächste Station wäre die Zentrale in Herford. Das soll nur ein paar Kilometer weit sein.” “Ja, ist es. Können wir auch hinwandern, wenn du Lust drauf hast.” “Mal schauen. Wenn du nichts dagegen hast, würde ich gerne noch ein, zwei Tage bleiben und ein paar Leute besser kennen lernen. Die Belegschaft hier ist äußerst interessant.” Das war sie. Die gestrige Nacht hatte meine Neugier noch deutlich verstärkt. ... Comment
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