Stichwort: Stories Matze!
MEMOMARATHON - stories matze!

Schöne Geschichten schreibt der Matze.

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Russian Teenage Tragedies


Sie blickte zurück auf die weite Taiga-Landschaft, die zu beiden Seiten eines kleinen Flüsschens lag. Wie ein grüner Teppich bedeckten Lärchen und Kiefern sanft ansteigende Hügel, die sich bis zum Horizont erstreckten. Einige Sekunden lang blieben Kyrtys Augen auf dem Fluss hängen, als wollten sie Abschied nehmen von seinem Anblick. Sie wandte sich um. Zwei Steinwürfe zu ihrer Rechten mündete der kleine Fluss Jurjach in den gewaltigen Strom. Hätte Kyrty nicht gewusst, dass sie sich am Ufer eines riesigen Flusses befand, sie hätte auch an einem Meer, einem Ozean stehen können. So weit ihr Auge reichte, sah sie die bräunlichen Wogen der Lena. Kyrty suchte nach Dingen, die ihr bekannt vorkamen, doch jetzt, im Sommer, sah alles ganz anders aus. Von der weißen, einförmigen Landschaft des Winters war nichts mehr zu sehen. Irgendwo hier, an der Jurjach-Mündung war sie vor sechs Monaten zusammen mit ihren Großeltern den beschwerlichen Marsch über das Eis angetreten.

Jolo, der Pelzhändler, hatte sie in seinem Jeep die vereiste Jurjach hinunter bis hierher mitgenommen. Das große Eis sei ihm zu gefährlich hatte er gesagt, die Lena müssten sie schon zu Fuß überqueren. Zehn Kilometer marschierten sie über den gefrorenen Fluss, bis sie Sjalach erreichten. In der Hafenstadt an der anderen Lena-Seite wollte die Großmutter neue Schuhe kaufen und ihr Großvater hoffte, er könne einige Bücher bekommen, mit denen sie sich die langen Winterabende vertreiben konnten. Eigentlich war Sjalach nicht besonders groß, es gab ein paar ärmliche Läden und einen kleinen Hafen, der aber im Winter zugefroren war. Aber für Kyrty war es der schönste Ort, den sie sich vorstellen konnte. Hier hatte sie Jamas getroffen, den Sohn des Kapitäns. Da der Kapitän im Winter im Hafen von Sjalach festsaß, war er die meiste Zeit des Tages betrunken, den Rest verschlief er. Jamas arbeitete währenddessen im Laden seines Onkels. Als Kyrtys’ Großvater mit Jamas’ Onkel über den Preis für einen Stapel schäbig aussehender Bücher verhandelte, hatten sie sich zu ersten Mal gesehen. Kyrty hatte sich im Laden umgeschaut und dort Jamas getroffen. Jamas war 17, Kyrty 14. Über Nacht waren Kyrty und ihre Großeltern bei einer alten Frau geblieben, da der Weg über das Eis im Dunkeln viel zu gefährlich war. Es gab Bären im Wald, die manchmal aus ihren Höhlen hervorkamen, um in Ufernähe nach Löchern zu suchen, an denen sie fischen konnten. Und in der Flussmitte musste man über gefährliches Packeis. Kyrty ging bis ans Ufer des Stroms und schaute sich wieder um. Großvater hatte ihnen einmal erzählt, dass es im Sommer eine Fähre gab, die ganz in der Nähe der Jurjach-Mündung lag. Doch sie konnte nichts sehen außer dem Fluss und dem Wald. Am nächsten Morgen, als sie sich auf den Rückweg machen wollten, war ein gewaltiger Schneesturm über Sjalach hereingebrochen, der eine längere Wanderung unmöglich machte. So traf Kyrty Jamas ein zweites Mal, als sie und ihre Großmutter im Laden nach einer Decke suchten. Kyrty hatte den Kapitänssohn eine zeitlang beobachtet, seine schwarzen Haare betrachtet und seine kleinen, starken Hände. Dann hatte er sich plötzlich umgedreht und sie mit seinen großen braunen Augen angeschaut. So hatten sie sich ineinander verliebt. Kyrty setzte sich ans Ufer. Sie konnte nicht bis zur anderen Seite sehen, da in der Mitte der Flusses mehrere Inseln lagen, die ihr die Sicht versperrten. Fast sechs Monate war das nun her.

Nach drei Tagen, als der Sturm nachgelassen hatte, hatten die Großeltern zum Aufbruch gedrängt. Heimlich hatte sie sich von Jamas verabschiedet, dem sie in den letzten zwei Tagen nicht mehr von der Seite gewichen war. Da hatten sie sich geküsst. Vielleicht, hatte er gesagt, sei das Eis in der Flussmitte zu dünn, dann würde sie zurückkommen müssen. Doch es hatte gehalten. Wenn sie ihn doch noch einmal sehen könnte! Natürlich hatte die Großmutter gemerkt, dass etwas mit nicht stimmte. Sie hatte Jamas und Kyrty zusammen im Laden gesehen. Ob es mit diesem Jungen zu tun habe habe, fragte sie Kyrty. Sie solle ihn sich aus dem Kopf schlagen, sie sei noch viel zu jung. Kyrty war stumm neben den Großeltern hergelaufen, die sich gegenseitig vorwarfen, zu viel Geld für Bücher und Schuhe ausgegeben zu haben. Zwischendurch hatte der Großvater sie immer wieder ermahnt, auf das Eis zu achten. Es trug. Sie hatten gerade den schmalen Packeisgürtel überquert, als sie hinter sich laute Schreie hörten. Sofort hatte sie die Stimme erkannt. Jamas! War er ihnen gefolgt und nun im Packeis eingebrochen? Kyrty weinte. Hinter dem Tränenschleier sah sie, wie die warme Julisonne hinter den Wolken hervorkam, die sie bisher verdeckt hatten. Als sie an der Stelle ankamen, von der aus sie den Schrei gehört hatten, war von Jamas nichts zu sehen. Aber dort, wo sie selbst noch vor wenigen Minuten das Packeis überquert hatten, zog sich ein langer, breiter Riss die Flussmitte entlang. Sie konnten nicht hinüber, der Riss war schon zu breit und die Großeltern hatten sie mitgezogen, um möglichst schnell das andere Ufer zu erreichen. Sie schafften es. Das Eis hatte getragen. Warum hatte Jamas geschrieen? Sie stand auf und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Träge floss der braune Strom an ihr vorbei. Heute würde er nicht tragen, das wusste sie.

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Froschkoenig und Maennerherrschaft – Eine Analyse. Fast von Christa Wolf

Folgendes Histörchen existiert zwar schon seit einiger Zeit, wurde aber bisher nicht veröffentlicht. War wahrscheinlich auch besser, aber was soll's. Ich will schließlich Euphorika nicht verwaisen lassen...

Leer und grausam starren sie mich an. Hier wird es geschehen. Hier geschah es immer wieder. Die goldene Kugel vor meinem inneren Auge rotiert, wird größer, drohend, spricht, ächzt mit seiner Stimme: Kassandra, Prinzessin Trojas. Ich übergebe mich, es wird dunkel.

Der Ball ist ein Geschenk des Königs, der mein Vater war. Zu groß, um ihn mit einer Hand zu fassen, zu schwer, ihn lang zu tragen, ein gutes Geschenk die Tochter zu bändigen. Symbol unserer Macht soll er sein; ganz aus Gold, besetzt mit grünen Perlen aus dem Amazonenreich. Du sollst ihn nehmen, Kassandra, ihn hüten und bewahren, er steht für das Schicksal Deines Volkes. Aus dem warmen Schoß der Mutter, die mich Umsicht und Barmherzigkeit lehrte, wurde ich den Armen des Vaters zugetrieben. Gerechtigkeit und Verantwortung waren seine Reden, männliche Reden.

Ich stieß ihn über die Stadtmauer. Den Ball. Doch Poseidon hatte seinen Willen gegen seine Stadt gerichtet und den Ball Achill, dem Vieh in die Hand gegeben. Dies ist der Schlüssel von Troja.

Ich bereute den Verlust des Balles nicht, aber die Amazonenkönigin war tief verzweifelt, als ich der Verbündeten Trojas meine Tat gestand. Damit, sagte sie, hast Du Dein Volk getötet. Der König wird ihn wiederhaben wollen. Er wird erbost sein über Deine Verantwortungslosigkeit der Stadt gegenüber und Deinen Ungehorsam gegen ihn. Ich hatte sie nie so gesehen, sie war gebrochen bis ins Herz. Ich beschloss, den Ball zu suchen, wenn nötig bei der Suche zu ertrinken, so liebte ich die Amazonenkönigin.

Doch war gerade die Belagerung in ihr siebtes Jahr gegangen und der König hatte einen Ausfall gewagt, um sich mit seinen Verbündeten im Norden zu besprechen. Da trat Achill, das Vieh, alleine, ohne Waffen an die Stadtmauer, die Kugel in der Hand. Wie ich gehört habe, hat Prinzessin Kassandra ihr Spielzeug verloren. Wie ich weiter gehört habe, sucht sie schon seit Jahr und Tag danach, da sonst ihr Vater sie blenden lässt und in den Tempel verbannt. Sieh her Kassandra, Prinzessin Trojas. Ich habe Deinen Ball gefunden und ich gebe ihn zurück. Was willst Du, Bestie? entgegnete ich, die ich noch ein Kind war vor drei Jahren. Mach die Tore auf, lass meine Armee in den Palast und ergib Dich, brüllte er mir hämisch entgegen, die ich mit meinen Brüdern an der Mauer stand. Doch das hat Zeit, zunächst soll Hektor, der Held Trojas, meine Blutgier stillen. Er schleuderte den Ball über die Mauer und traf Hektor, meinen Heldenbruder an der Schläfe, so dass er niederfiel und von der Mauer stürzte. Das Schicksal war besiegelt

Kassandra, Prinzessin Trojas. Der Ball droht blutbeschmiert.

Heute bezahle ich meine Schuld. Ich habe gewarnt, den Götzen nicht in die Stadt zu holen. Doch der König, der mein Vater war, ließ im Taumel die Tore einreißen. Sie kommen. Die Stadt brennt und Achill ist lange tot. Doch seine Rächer töten im Blutrausch. Der König steht mit blutigem Schwert an der Tür, seine Augen glänzen fiebrig. Er faselt: Wir werden siegen. Agamemnon, Achills Rächer, wird hingestreckt von meiner Hand. König, sage ich, Vater. Wir werden untergehen. Ich hatte den Ball weggeworfen. Er war zu schwer. Jetzt ist er mit Blut besudelt. Achill hatte ihn. Er bricht zusammen. Du Schlange, dann empfang das Schicksal, dass der Mörderin Trojas zusteht.

Die Tür wird aufgestoßen. Agamemnon. Kassandra, ich komme, deine Schulden einzutreiben. Der König bricht zusammen. Nimm sie. Ich kenne sie nicht. Ich muss mich übergeben.

Die Löwenköpfe sind vorüber. Der Wagen rollt zur Burg hinauf, ein Dolch blitzt. Mein Dolch. Er wird bald keine Macht mehr haben über mich.

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Frau Professor Doktor B.

[Vorbemerkung: Als ich im letzten Februar meiner Liebsten geholfen habe, die Professorenevalutation des Fachbereichs "Rechtswissenschaften" einzugeben, fiel mir ein Stapel Fragebögen in die Hände, in dem die Dozentin unglaublich gut bewertet wurde - und zwar nicht nur rein fachlich! Da ich insgesamt mehrere Stunden mit dem Eintippen der Bögen zubrachte, fing ich irgendwann an, mir einzelne Szenen einer Vorlesung bei dieser Dozentin vorzustellen...]

Als sie den Hörsaal betrat, nahm ich nichts anderes mehr wahr, als ihre Stimme und ihre Augen, die immer zuerst das gesamte Auditorium musterten, bevor sie zum Mikro griff. Ich hatte keine Ahnung, wie alt sie eigentlich war, auf jeden Fall sehr jung für eine Zivilrechtsprofessorin. Bereits jetzt musste ich grinsen, denn wie die meisten meiner Kommilitonen wusste ich, was jetzt kommen würde. „Piiiiiiiiiieep!“ Sie hatte das Mikrophon angeschaltet und sofort eine schmerzhafte Rückkopplung erzeugt. „Entschuldigen Sie bitte, beim nächsten Mal denke ich daran!“ Dabei rollte sie das „r“ in „daran“ ungewöhnlich stark. Obwohl ich ansonsten den fränkischen Akzent nicht ausstehen konnte, bei ihr liebte ich ihn. Versonnen schaute ich ihr zu, wie sie eine Weile mit dem Tageslichtprojektor kämpfte. Auch er schien nicht so recht bei der Sache zu sein, wenn sie vor ihm stand. Ihr cremefarbenes Kostüm saß wie immer perfekt. Während sie in einem Anflug von Verzweiflung die verschiedenen Knöpfe des Projektors ausprobierte, musste sie sich immer wieder ihr blondes, halblanges Haar aus dem Gesicht streichen. Sie wählt bestimmt CSU, dachte ich plötzlich. Eine offensichtlich bayrische Zivilrechtlerin, die konnte doch gar nicht anders! Und wenn schon. Der Tageslichtprojektor schien endgültig in Ohnmacht gefallen zu sein. Sie gab es auf. „Dann muss wohl heute die Tafel herrrrhalten!“ O glückliche Unterlage, die von ihrer Kreide berührt wird! Nein, bestimmt kommt sie aus einen stockkonservativen Elternhaus, hat sich aber in den frühen Achtzigern mit ihrem Vater überworfen und gegen den Nato-Doppelbeschluss und die Nachrüstung demonstriert. Sie blickte in meine Richtung. Sie sagte etwas. Meinte sie mich? Nein, ihr Blick wanderte weiter. Wenn sie redete, konnte man gut das Spiel ihrer Grübchen und Lachfalten beobachten. Verdammt, ich musste zuhören. Schließlich gab sie sich so viel Mühe in ihren Vorlesungen. Plötzlich schien es mir ein unerträglicher Gedanke, auch nur ein Wort, das ihren Mund verlassen hatte, nicht mitzuverfolgen, in sich aufzusaugen und für immer tief im Gedächtnis zu behalten. Doch der rasche Singsang ihres Vortrages ließ mich bald wieder wegdämmern. Wenn sie sich in meine Richtung wandte, sah ich ihre grünen Augen aufblitzen. Gott mach, dass sie nicht verheiratet ist! Natürlich war sie es. Bestimmt hatte sie auf irgendeiner Demo in Bonn einen intelligenten und gutaussehenden Philosophiestudenten aus Tübingen kennengelernt. Bestimmt hatten sie zwei Töchter, um die er sich tagsüber kümmerte, während er an seinem dritten Roman arbeitete. Wenn ich ihn jetzt sehen könnte, wie er mich mit seinen braunen Augen ernst durch seine randlose Brille anschaut; wahrscheinlich müsste ich zugeben, dass er sie verdient hatte. Mehr als wir alle zusammen. Worüber sprach sie? Vertragsrecht. Natürlich, das war ja der Titel der Veranstaltung. Ich riss meine Augen für einen Moment von ihr los, um nach rechts und links zu schauen. Alle saßen sie gebeugt in ihren Pulten und schrieben eifrig mit. Erzähl uns doch mal von Deiner wilden Zeit, als Du noch Häuser besetzt und den Atomkrieg verhindert hast, dachte ich. Warum war diese Frau nicht schon längst Dekan? Bundesrichterin oder Justizministerin? Was war eigentlich los in diesem Staat? Ich schaute auf meinen leeren Block. Wenn ich doch wenigstens ein guter Zeichner wäre! Bei diesem Motiv! Vielleicht könnte ich ein Lied über sie schreiben. Die Sonne schien nun direkt in den Vorlesungssaal und ein Sonnenstrahl traf sie mitten ins Gesicht. Ihre Lippen kräuselten sich, die Sonne hatte sie aus dem Konzept gebracht. Nicht nur sie! „Könnte vielleicht jemand so nett sein, und die Rollos etwas herunterlassen?“ Jetzt! Ich wusste sofort, dass dies meine einzige Chance war. Bis zum Schalter waren es von meinem Platz aus nur etwas fünf Meter Luftlinie. Allerdings mit drei Pultreihen dazwischen. Ich sprang auf und setzte über den ersten Tisch. Erschrockene Augen starrten mich an. „Entschuldigung, darf ich mal!“ Ich schlängelte mich zwischen einigen fluchenden Erstsemestern hindurch und war tatsächlich der erste am Schalter. Ich drückte ihn und schaute mich um. Da stand sie und lächelte. Lächelte nur für mich, sah mich direkt an. „Vielen Dank. Ein echter Gentleman.“ Sie drehte sich wieder der Tafel zu. Den Rest der Vorlesung verbrachte ich damit, die Ouvertüre meiner ersten Oper fertigzustellen.

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Die Nebenrolle

Die Musik geht ihm einfach nicht mehr aus dem Kopf. Immer wieder bleibt er stehen, hält den Atem an und horcht angestrengt. Da! Ganz klar Musik. Aber kommt sie von irgendwoher draußen, oder bildet er sie sich nur ein? Es ist eine seltsam eingängige Melodie. Obwohl er sicher ist, dass er sie heute zum ersten Mal hört, ist er ständig versucht, mitzusummen. Eine Weile noch bleibt er stehen, lächelt unsicher Passanten zu, die sich über sein Verhalten wundern. Steht da reglos mit auf dem Bürgersteig und lauscht. Endlich geht er weiter. Die Melodie ist gar nicht so entscheidend, denkt er plötzlich. Es ist das Arrangement der Stimmen, die Orchestrierung. Außer ihm scheint niemand etwas zu bemerken. Dabei hört er ganz deutlich die Streicher, die sich in der Melodieführung mit einem Klavier, nein, einem Flügel abwechseln. Zwischendurch Bläser. Was ist das für eine Musik? Ist sie traurig, fröhlich? Sie enthält ganz verschiedene Elemente, so dass ein klarer Charakter kaum auszumachen ist. Verdammt! Wird er womöglich verrückt? Es gibt keinen Zweifel: Diese Musik ist real, kein Hirngespinst, zumindest keines, das sich schnell vertreiben lässt. Außerdem scheint sie ihm zu folgen, sie passt sich seinen Bewegungen an. Er geht schnell ein Stück vorwärts. Auch die Musik eilt nun voran, doch nicht im Takt zu seinen Schritten, sondern im Gegentakt! Ein synkopisches Pizzicato der Geigen in jenen Momenten, in denen er gerade keinen Fuß auf der Erde hat. „Das ist gut, nicht wahr?“ Eine Stimme. Woher? „Aus dem Off, mein Lieber, einfach aus dem Off.“ Dem Off? „Dem Unsichtbaren.“ „Wo verstecken Sie sich?“ „Nirgendwo, mein Lieber. Nur leider können Sie mich nicht sehen. Genau genommen sollten Sie mich nicht einmal hören können. Die Musik auch nicht.“ „Wer sind Sie?“ „Przyschinsky. In bin der Sprecher.“ „Ein Sprecher? Was für ein Sprecher? Ein Nachrichtensprecher?“ „Nein. Der Erzähler. Ich führe durch den Prolog, die ersten Minuten. Damit die Leute schneller in das Szenario eintauchen. Das ist einer der ältesten Tricks in der Filmgeschichte, aber er funktioniert immer!“ Er biegt in eine Seitenstraße ein. Niemand weit und breit zu sehen. „Natürlich nicht. Hören Sie, lassen Sie uns weitermachen.“ Womit zum Kuckuck? „Womit denn?“ „Der Sze-ne! Die Musik ist schon fast vorbei und Sie sind noch immer nicht von der Brücke gesprungen.“ Nein, natürlich nicht. Hat er eigentlich auch nicht vor. „Warum sollte ich von einer Brücke springen?“ „Nun, weil dies eine leicht skurrile Tragikkomödie ist, und solche Filme beginnen oft mit so etwas: Einem Selbstmord. Einer schwierigen Geburt. Einem Erdbeben. Hier, nehmen sie die Brücke dahinten. Die Höhe langt auf jeden Fall. Sie können ja sicherheitshalber mit dem Kopf zuerst runter.“ Der Kopf schmerzt ihm. Alles beginnt sich zu drehen. Er läuft jetzt, sucht andere Menschen. „So ist richtig. Gleich haben wir's geschafft. Ich werde jetzt mit dem offiziellen Teil beginnen, wenn' Ihnen recht ist.“ Da! Eine Frau. „Hören Sie das auch? Die Musik und die Stimme?“ Die Frau blickt ihn sehr verunsichert an. „Nein. Ist Ihnen nicht gut?“ „Nein, ich, ich, zuerst war da nur eine Musik und dann eine Männerstimme. Hören Sie das denn nicht?“ „Soll ich vielleicht einen Krankenwagen rufen?“ „Ich bin nicht sicher. Ja vielleicht wäre das...“ „Nix da! Sie springen schön da runter!“ Wieder die Stimme. „Schaff' doch mal einer die Frau weg. Sie stört.“ Die Frau dreht sich plötzlich um und läuft davon. „He, warten Sie!“ „Lassen Sie das. Sie gehört nicht in die Szene. Ich fange jetzt an: Der Tag war eigentlich viel zu schön, um sich umzubringen, aber es war Michaels einziger freier Tag in diesem Monat. Wer weiß, wahrscheinlich war dies die letzte Möglichkeit überhaupt, dem öden Dasein vorzeitig ein Ende zu machen“. Die Musik wird jetzt fast fröhlich. Sarkastisch. Er wusste gar nicht, dass Musik einen solchen Sarkasmus verströmen kann. „Er stieg einfach auf das Geländer der Rheinbrücke, breitete die Arme aus und stürzte sich hinunter. Na los, jetzt machen sie schon! Ich will Ihnen nicht immer alles zweimal sagen müssen. Es ist eine Mordsarbeit, hinterher alles rauszuschneiden.“ Die Brücke liegt jetzt vor ihm. „Aber das ist doch gar nicht der Rhein!“ Er lebt nicht mal in der Nähe des Rheins! „Seit wann müssen alle Szenen an Originalschauplätzen gedreht werden, he? Das ist so eine Masche reicher Hollywood-Produzenten. Macht sich gut für die PR. Aber nicht bei uns. Unser Budget ist schmal genug. Jetzt Springen Sie, verdammte Axt! Muss ich erst den Regisseur holen?“ Er kann nicht mehr denken. Auf dem Bürgersteig neben dem Brückengeländer lässt er sich auf die Pflastersteine sinken und schließt die Augen. "Aufhören!" denkt er. „Es reicht, der Regisseur muss her. Die Musik ist jetzt auch schon vorbei. So ein verdammter Mist!“ Stille. Keine Musik mehr. Keine Stimme. Nichts. Vorsichtig öffnet er die Augen und blickt sich um. Hatte er eine Wahnvorstellung? Er schaut auf die Uhr: Die Arbeit! Er kommt viel zu spät. Er rafft sich auf und geht langsam auf das Ende der Brück zu. Plötzlich wird er gepackt. Sein Körper wird auf den Bürgersteig geworfen. Er schreit, versucht sich zu wehren, schlägt und tritt nach dem unsichtbaren Feind. Doch statt ihn freizugeben, schließen sich zwei eiserne Hände um seinen Oberkörper. Zwei unsichtbare, aber unglaublich starke Arme pressen ihn an das Brückengeländer. Für den Bruchteil einer Sekunde riecht er den Atem seines Feindes, ein Gemisch aus kaltem Rauch, Whiskey und einem Salamisandwich. Dann wird er in die Luft geschleudert und der Fluss rast ihm entgegen. Die Musik ist wieder da, denkt er, als er auf der Oberfläche aufschlägt.

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Ornithologie

Mit funkelnden Augen schaute er sie an. Das krause Haar auf seinem Kopf wirkte wie ein wirres, undurchdringliches Dornengestrüpp. „Soll ich’s Dir zeigen?“ fragte er. Seine Stimme klang immer noch aufgeregt. „Das ist doch langweilig“, entgegnete sie. „Was soll das sein? `Ne neue Art von Anmache?“ Betont lässig warf sie sich ihren Rucksack über die Schulter. Warum hatte sie überhaupt ein Gespräch mit ihm angefangen? Ruprecht war ein totaler Außenseiter. Richtige Freunde hatte er in der Klasse nicht, ob er welche außerhalb der Schule hatte, wusste sie nicht. Wohl eher nicht. Jasmin, vor einem Jahr noch ihre beste Freundin, hatte ihr mal gesagt, dass sie ihn süß fände. Sollte sie! Doch offensichtlich wollte Ruprecht nichts von ihr. Was für ihn sprach. „Er ist eben noch ein Kind“, war damals Jasmins Erklärung. „Hat wohl Angst, dass ich ihm seine Spielzeuge klaue.“ Aber er wirkte nicht sehr kindlich, eher im Gegenteil. Im Unterricht schaute er meistens in Gedanken versunken auf irgendetwas, das sich weit hinter der Wand des Klassenraums zu befinden schien. Sandra war er ein absolutes Rätsel. Und nun stand er vor ihr und war kaum wieder zu erkennen. Sie wohnten an derselben Buslinie, doch fast immer wurde Ruprecht von seinem Vater von der Schule abgeholt. Heute nicht. Allein standen sie an der Bushaltestelle und warteten. Der Bus würde erst ein 15 Minuten da sein. „Sie fangen Fliegen und sonn’ Zeug und spießen sie dann auf. An Stacheldraht oder Dornen. Komm ich zeig’s Dir.“ Seit fünf Minuten erzählte Ruprecht ihr von irgendwelchen Vögeln, die in der Hecke an der anderen Straßenseite brüteten. „Hä?“ Sandra wusste nicht recht, was sie ihm antworten sollte. „Was ist denn da so besonderes?“ „Mann, sie spießen ihre Beute so richtig auf. Darum heißen sie auch so. Neuntöter!“ „Neuntöter.“ „Ja, weil sie angeblich erst neun Opfer töten und aufspießen, bevor sie eins auffressen“. Irgendwie war dieser Junge schon seltsam. In drei Jahren, in denen sie in dieselbe Klasse gingen, hatten sie außer ein paar Kleinigkeiten nichts miteinander zu reden gehabt und jetzt das. Er zog sie an der Hand. „Guck’s doch mal an.“ Er grinste. „Ist auch nicht gefährlich“. „Warum auch wohl“, fragte Sandra. „Es sind schließlich Vögel und keine Zombies.“ Augenrollend ließ sie sich hinter ihm herschleifen. „Dann zeig mal Deine Monster-Vögel.“ „Pssst. Sei jetzt still. Sonst hört sie uns kommen, “ erwiderte Ruprecht. Durch ein Loch schlichen sie sich hinter die Hecke und Ruprecht zeigte auf eine Stelle anderthalb Meter über der Erde. „Da, schau!“ Im dichten Gestrüpp sah Sandra ein kleines Vogelnest. Und darin saß ein Vogel. „Toll“, zischte sie, „ein Vogelnest. Hab’ ich ja noch nie gesehen.“ „Warte“, antwortete Ruprecht. „Gleich kommt das Männchen zurück.“ „Woher weißt Du, dass es das Männchen ist? Hast Du nachgeschaut?“ fragte sie ironisch. „Quatsch. Es sieht bloß ganz anders aus. Der Strich in seinem Gesicht ist schwarz und nicht braun. Und am Bauch ist das Männchen rosa und nicht weiß. Leise jetzt mal.“ Er zeigte nach rechts. Sandra sah, wie sich auf einem Zweig – ein Stück weg vom Nest – ein Vogel niederließ. Tatsächlich. Schwarzer Strich im Gesicht. Er hatte etwas im Schnabel. „Jetzt tut er’s gleich!“ flüsterte Ruprecht. Er zitterte vor Aufregung. Fast hätte Sandra geschrieen. Das war keine Fliege im Schnabel des Neuntöters, das war eine kleine Maus. Sie hasste Mäuse. Der Vogel machte sich an dem Zweig zu schaffen, der ihm gegenüber hing. Sandra sah, dass dort, an den Dornen der Hecke aufgespießt, bereits zwei Fliegen hingen. Das Aufspießen der Maus dauerte etwas, aber schließlich hing auch sie neben den anderen Opfern. Der Vogel war schon wieder weg. Sie schlichen noch etwas näher heran, wobei Ruprecht immer das Weibchen im Auge behielt, das regungslos in seinem Nest saß. „Guck mal, die lebt noch.“ Er zeigte auf die Maus. Zuerst dachte Sandra, er wollte ihr bloß Angst machen, aber dann sah sie, dass die Beine der Maus wirklich noch zuckten. ‚Ich muss hier weg! dachte sie, doch gleichzeitig merkte sie, wie ihre Neugierde sie zurückhielt. Das Zucken kam stoßweise. Als sammele die Maus immer wieder ihre Kräfte, hing sie eine zeitlang regungslos da und bäumte sich dann plötzlich mit ihrem ganzen Körper auf. Doch es half nichts. Der Dorn, an dem sie aufgespießt war, steckte tief in ihrer Brust und nach einigem weiteren Zucken wurden ihre Befreiungsversuche immer schwächer. Sandra schien es, als würde ein Auge der Maus sie direkt anschauen. Dieser Blick… Sie hatte ihn schon öfter gesehen – bei Ruprecht. Aber es war ein anderer, als der augenfunkelnde Blick, mit dem er sie an der Bushaltestelle angeschaut hatte, auch etwas anderes als die gespannte Neugier, mit der er die sterbende Maus betrachtete. Dieser hier war matt und ausdruckslos. Ihre Augen fielen auf sein Gesicht. Sie sahen sich an. „Sie schaut wie Du“, sagte sie. „Wie Du, wenn Du im Unterricht gegen die Wand starrst, als ob irgendwas dahinter wäre.“ Dann beugte sie sich vor und küsste ihn.

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The Dirt Butterfly

Er hatte schon eine Menge getrunken, als er anfing, deutsch zu reden. Es sei betrunken viel einfacher, lallte er und grinste. „Dann du hast keine Angst für Fehlern.“ Er war blond, mittelgroß und hatte ein sympathisches Gesicht. Ein Typ, den man gerne als Bruder hätte. Unkompliziert und immer gut gelaunt. Vor allem kein verdammter Besserwisser. Und er vertrug nicht gerade viel Alkohol. „In Sweden, it’s sooo expensive“, erklärte er mir und breitete seine Arme dabei so weit aus, wie er nur konnte. In einer eigenartigen Mischung aus Englisch und Deutsch beschrieb er mir seine Überfahrt auf einer dieser riesigen Ostseefähren. Für die Schweden musste das so eine Art Initialzündung zum Saufen sein. Sobald sie auf See gewesen wären, hätten sie den Duty Free Shop gestürmt und noch vor Ort angefangen. Meinen Einwand, der Alkohol sei in den Duty Frees immer noch ziemlich teuer, wischte er mit einer so heftigen Armbewegung beiseite, dass es ihn umriss und er auf dem aufgeweichten Boden lag. Dabei kugelte er sich vor Lachen. „Fuck you, that’s not the point“, krähte er. „It’s all imagination. We’re out of Sweden, so alcohol is cheap und easy to get.”

Alle anderen waren schon lange im Bett. Wir standen draußen vor der Jugendherberge, in der ich seit einigen Monaten Zivildienst machte. Simon war mit einer Jugendgruppe unterwegs, die auf einer Art Sprachexpedition durch Deutschland unterwegs war. Sie zogen von einer größeren Stadt in die nächste und lernten deutsch. Gestern waren sie bei uns angekommen. Übermorgen wollten sie weiter. Ihre Reiseleiterin war eine Lehrerin aus Koblenz, der es anscheinend Spaß machte, für eine Horde halbstarker skandinavischer und französischer Kids ihre Sommerferien zu opfern. Natürlich durften alle sie mit Vornamen anreden. Silke. Der Typ, der sie begleitete war ein so typischer Pädagoge, dass man ihn, so wie er war, als Modell des klassischen Alt-68ers ins Haus der Geschichte hätte verfrachten können. Jörg. Kotz. Selbst Silke mochte ihn nicht. Dabei schien sie ansonsten mit jedem Mann zu flirten, der auch nur halbwegs volljährig aussah. Gestern war ich ihr nur gerade noch entwischt. Ich hatte sie mehr oder weniger die Treppe zu ihrem Zimmer hochtragen müssen, weil zu betrunken war, um alleine den Weg zu finden. An der Zimmertür angekommen, wollte sie gerade zum Gute-Nacht-vielen-Dank-noch-mal-aber-ich-brauch-das-jetzt-einfach-Kuss ansetzen, als Simon um die Ecke gekommen war. Er suchte nach mir. „We need more Beer“, rief er, merkte allmählich was los war und grinste. „Hey Silky, don’t let him do this to you. You afford a better one. Just like me. But older an` wiser.” Dann zog er mich um die nächste Ecke. „Du bist Scheise,“ flüsterte er. „She’s not even a Bitch. She’s so boring. Let’s have some fresh beer.”

Wir hatten neues Bier, doch im Gegensatz zu mir musste er nicht um sechs Uhr morgens aufstehen. Letzten Endes schliefen wir beide nicht, sondern deckten, völlig betrunken, zusammen den Frühstückstisch. „What a shit job“, murmelte er dabei ständig. „What a bloody shit job you are doing here.” Ich mochte meinen Job. Außer zu den Essenszeiten musste man nicht viel tun, lernte dauernd neue Leute kennen und bekam sogar die eine oder andere Chance, mit verzweifelten Lehrerinnen zu knutschen. Bier war auch umsonst. Dass wir es heute Abend auch so lange ausgehalten hatten, war hauptsächlich sein Verdienst. Als die Gruppe gegen Abend von ihrer Stadtführung zurückkam, lies er sich von mir in die Küche bringen und mixte aus mindestens zehn Zutaten einen Wachmacher. Ich schmeckte Kaffee heraus und Senf. Pfeffer war auch drin, allerdings konnte man ihn wegen der großen Menge Senf nicht herausschmecken. Dann fingen wir wieder an zu trinken. Die ersten beiden Bier waren zwar schwer, aber schließlich war ich im Dienst für mein Land und musste die europäische Freundschaft intensivieren.

Simon sah aus wie ein Ferkel. Als er sich eine halbe Minuten vor Lachen auf dem Boden gewälzt hatte, gab es keine Stelle mehr an ihm, die nicht schlammig oder nass war. „War Du schon in Schweden davor?“ fragte er. „It’s quite a nice country, but they are mad in alcohol things. In every way.” Seine These mit dem Deutschsprechen klappte offenbar nur sehr mäßig. Aber er versuchte es und setzte sich aufrecht in den Matsch. „Gib mich bitte mal den... bottle opener? What’s the name for it in German?“ „Flaschenöffner.“ „Krass.“ Das Wort hatte ich ihm beigebracht. Jetzt war alles „krass“ für ihn. Das Rathaus, der Dom, die deutschen Frauen, alles. Selbst Silke und Jörg. „Krass people, wenn Du fragt mir.“ Aus einer seiner bollerigen Hosentaschen zog er eine neue Flasche Bier. Ich gab ihm den Flaschenöffner. „Fla-schen-öff-en-er“, wiederholte er, mehr lallend als redend. Mit einem Zug machte der die Flasche halb leer. Mit der anderen Hand patschte er fröhlich im Matsch neben sich herum. „Du hast krasse Worte in deutsch. Flaschenöffthing und this kind of constructing houses.“ „Fachwerkhäuser.“ „Shit yeah, Fackverk. Krass. How do you tell this thing?” In der Hand hielt er ein Stück Rindenmulch. Er murmelte das schwedische Wort dafür, aber ich verstand es nicht. „Mann Simon, das ist einfach nur Dreck“, sagte ich. „Rindenmulch. Kompost. Only dirt.“ „Fuck. Nothing's only dirt. Look. It’s like a plane.” Er krächzte ein paar Motorgeräusche und ließ das kleine Stück Holz immer wieder im Matsch starten und landen.

„Was ist das schwedische Wort dafür,“ fragte ich. Er grinste und trank mit einem letzten Zug die Flasche leer. „Ich kann nicht übersetzen. Es ist... like a butterfly. A dirt butterfly.“ „Erzähl keine Scheiße. Nicht mal die Schweden sind so dämlich und halten Dreck für Schmetterlinge.“ „Chmetterlick?“ „Schmet-ter-ling. Butterfly“, „Yeah, it’s no normal butterfly, of course. Does it look like a normal butterfly, man? Shit, no! It’s a dirt butterfly.” Er versuchte aufzustehen und landete prompt wieder in der Scheiße. Beim zweiten Mal kam er hoch. „Sie fliegt bei night, you see? They are very shy, ?cause they’re so ugly. Aber in die night, they are beautiful. Schön. Like little elves. Regardez, Monsieur!” Er ließ das Holzstück durch die Luft schweben und lallte einige Töne dazu, die wohl so etwas wie Elfengesang sein sollten. „Wiblediseldoooo. Listlewistleshoo!“ Er versuchte, ernst dabei auszusehen, obwohl es ihm schwer fiel. „Listen. Two years ago, in a midsummernight, they told me how to drink stereo! Hand me the bottles!” Ich reichte ihm zwei neue Bierflaschen. Mein Kopf drehte sich. In meinem Magen tobte ein Kampf zwischen dem Senf, dem Kaffee und einer halben Kiste Jever. Obwohl ich wusste, was nun kam, sagte ich nichts. Simon machte beide Flaschen auf, setze an und trank. Obwohl seine Augen merklich größer wurden und sein Körper unter größter Spannung stand, lief nichts daneben. Nach einer halben Minute setze er ab. Beide Flaschen waren leer und er hatte nicht einmal zwischendurch geatmet.

„He? You’ll try this, too, you sucker?!“ Er rülpste dreimal in die Nacht und wedelte mir wie wild mit dem dirt butterfly vor meinem Gesicht hin und her. “He helped me. The good old dirt butterfly. Das ist warum sie heißen dirt. They are bad. Show Swedish people how to drink more beer, although it’s sooo expensive. Fucking dirty little thing.” Er bückete sich und fing an, Hände voller Rindenmulch in die Luft zu werfen. „Shit. They want us to die. They force me to drink. Where’s the beer?” Es gab keins mehr. Er hatte alles vernichtet. “Sorry Simon, no more beer.” Ich zog mir den Pullover über das Gesicht, um nicht völlig dreckig zu werden. Aber er schrie nur „Shit! Than they’ll kill me 'cause of that.” Er warf noch eine riesige Ladung Dreck in die Luft und rannte in die Dunkelheit. „I’ll be back soon“, schrie er. „But I first need a sword.” Dann war er weg. Ich hörte, wie er im Unterholz des nahen Waldes nach einer Waffe gegen die fiesen Schmetterlinge suchte. Eins der Mulchstücke hatte sich trotz Pullover in meinen Haaren verfangen. Ich zog es heraus. Es war einfach nur Holz. Ich stellte mir vor, wie Millionen von Schweden in der Mittsommernacht, umschwirrt von tausenden kleiner Holzstückchen, verzweifelt viel zu teueres Bier in sich hineinschütteten. Warum? Das Holzstück sah nicht besonders gefährlich aus. Es sah aus wie ein kleines Stück festgewordene Minihundescheiße. Langsam meldete sich mein Magen wieder. Von Simon sah und hörte ich nichts. Wahrscheinlich schlief er irgendwo im Wald. Ich dachte an Silke. Wie alt sie wohl war. 40? Mindestens. Ob sie in der Schule wohl auch mit Schülern rummachte, wie auf ihren Sprachreisen? Bestimmt nicht. Warum auch, wenn sie in den Ferien Typen wie mich vergewaltigen konnte. Ich schaute auf den dirt butterfly und steckte ihn in die Tasche. Ob man ihn wohl zähmen konnte, um ihn als Waffe gegen aufdringliche Frauen zu benutzen? Morgen musste ich Simon danach fragen. Er kannte bestimmt eine Methode.

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Mein Kunstlehrer

"Wenn die Mona Lisa dicke Dinger gehabt hätte," sagte mein Kunstlehrer oft,"dann würde sich heute niemand um dieses blöde Grinsen scheren. Alle würden auf ihre Möpse glotzen!" Meistens saß er auf dem Pult und ließ seine dicken Beine baumeln. "Wozu hätte Leonardo wohl ein Gesicht malen sollen, wenn er vernünftige Alternativen gehabt hätte!" Die meiste Zeit saßen wir schweigend im Klassenzimmer und lächelten verlegen. Am Anfang hatten die Jungs immer gelacht und dreckige Witze gemacht, aber das war ihnen schnell vergangen. "Jungs," sagte mein Kunstlehrer, "das ist eine Kunststunde. Eure dreckigen Zoten könnt ihr Euch erzählen, wenn ihr euch heut' Nachmittag zum Schwänze messen trefft!" Unglaublich! Und weil die Mädchen eh schon pikiert waren wegen seiner Lästerei über die nur "ansatzweise" akzeptable Oberweite der Mona Lisa, lief der Unterricht meistens monologisch ab. Er hielt uns Vorträge über alles Mögliche: Die Sinnlosigkeit der Schule, den qualvollen Tod seiner Mutter und die Grausamkeiten seiner Ex-Frau. Wenn er sichtlich zufrieden über unsere totale Verunsicherung seine Ausführungen beendet hatte, ging er an die Tafel und schrieb ein Thema auf, zu dem wir etwas malen sollten. "Supermarkt" stand dann da, oder "Tod". Nicht einmal durften wir an einem dieser Volksbank-Wettbewerbe teilnehmen, bei denen alle anderen Klassen mitmachten. "Wasser ist Leben?!," schrie mein Kunstlehrer, "Was soll das sein? Das Motto der neuen Dokumenta?" Also malten wir keine Wasserfälle oder Unterseelandschaften, sondern unsere erotischen Träume der letzten Woche. Da ich meistens keine hatte, dachte ich mir welche aus. Wenn er mich fragte, was das Gekritzel auf meinem Blatt zu bedeuten hätte, teilte ich ihm mit, das sei der Ausdruck meiner sexuellen Frustration. "Du hast Glück," sagte er, "dass Deine Ehrlichkeit Deinen Mangel an Talent ausgleicht." Und er gab mir eine Zwei. Als wir Projektwoche hatten, trug ich mich natürlich sofort in seine Projektgruppe ein. Das Thema war "Schulverschönerung" und ich wollte unbedingt dabei sein, wenn mein Kunstlehrer uns befahl, die Schulflure mit Motiven aus der Offenbarung zu bemalen. Ich wurde nicht enttäuscht. Zwar hatte unser Direktor ihn davon abbringen können, den Bio-Trakt mit der Auferstehung der Toten zu bepinseln, doch wurde uns erlaubt, die Toiletten mit Szenen aus dem Film Apokalypse Now zu schmücken. Den hatten wir uns tags zuvor unter der behutsamen pädagogischen Aufsicht unseres Kunstlehrers anschauen dürfen. "Hört zu," sagte er. "Jeder Idiot weiß, dass Vietnamesen um nix schlechter oder hässlicher sind, als diese tumben Amis. Trotzdem: Malt sie, wie ein amerikanischer Soldat sie sich vorstellt, der wochenlang in seinem Versteck liegt. Der sich vor Angst in die Hosen scheißt. Dann kapiert ihr, wie Hass entsteht. In den Köpfen! Aus der nackten Angst heraus!" Also malten wir zähnefletschende, gelbgesichtige Monster mit Schlitzaugen, die mit riesigen MG's bewaffnet waren und verängstigte junge Amerikaner damit niedermähten. Als Mahnmal für den Frieden.

Eines Tages war er einfach weg. Eine alte Lehrerin spazierte in unseren Klassenraum und murmelte irgendwas von Versetzung und familiären Schwierigkeiten. Sie hatte einen Stapel mit den neuen Wettbewerbsbroschüren der Volksbank dabei (Thema: Mein Instrument und ich) und wies uns an, in den kommenden zwei Wochen eine Tuschezeichnung dazu anzufertigen. "Wenn einer von Euch gewinnt," sagte sie, "bekommt er eine Eins und ich spendiere Überraschungseier für die ganze Klasse." Ich kritzelte zwei Wochen lang mit halb vertrockneter Tinte auf meinem Block herum und behauptete anschließend, das sei mein Frust über meine Unmusikalität. Die Lehrerin hatte Mitleid ich bekam eine Vier plus. Zwei andere Jungs aus meiner Klasse hielten das Erbe unseres alten Kunstlehrers in Ehren, indem sie den Begriff "Instrument" sehr frei auslegten und ihre Geschlechtsteile malten. Jahre später war ich im Louvre und schaute mir die Mona Lisa an. Ich fand das Lächeln eigentlich ganz hübsch.

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Und Kaloi hat die
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Matze macht Märchen https://beffana.net/blog/2021/12/01/beffana-2021-staffel-6-folge-1-der-rattenkoenig/
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Die Tage werden wieder kürzer.
Vielleicht sollten wir unsere Schreibtische verlassen und zwischen den...
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fun fact
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by ChrisTel (18.06.21, 22:49)
danke. hat mich gefreut!
:)
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von mir auch allet
jute!
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#thismorningwalk
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Uuuuund... noch'n Podcast hier: https://im-moor.net
(kann man ruhig hören. ist seehehr gut))
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Weihnachtshexe Beffaná FYI Ich hab
einige Songs meiner diesjährigen 24-teiligen-Podcast-Serie über die Weihnachtshexe Beffaná in...
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Habs mir gerade angehört.
Cooler Text. Frohes Neues!
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Brückengeländer
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👍🤗
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