Lauter bekannte Gesichter
Dienstag, 26. Oktober 2004
Lauter bekannte Gesichter

1. Abschnitt: Die Mitte zuerst 2. Abschnitt: Neoetatistisches Ökonomengeschwurbel 3. Abschnitt: Scheiß neue Energien 4. Abschnitt: heimaterde reloaded 5. Abschnitt: Ottos Mops

Ich erzähle anderen nicht sonderlich gerne über meinen Beruf. Das liegt nicht daran, dass ich mich für das, was ich tue, schäme, nein, aber die Wahrheit ist, dass mich mein Beruf nicht sonderlich interessiert. Ich übe eine mehr oder weniger anspruchsvolle Tätigkeit aus und spiele dabei nach Regeln, die ich deshalb nicht in Frage stelle, weil es zurzeit einfach keine besseren gibt. Meine Freundin bemerkte einmal, SPP arbeite zutiefst unmoralisch. Wir seien viel zu schlecht vorbereitet, unsere Pläne viel zu wenig fundiert, um den Unternehmen und Behörden, die unsere Analyse und unser Coaching nachfragen, wirklich zu helfen. Ich setzte ihr damals entgegen, dass nicht die Qualität unserer Ratschläge das Entscheidende sei, sondern allein die Tatsache, dass wir klare Ratschläge geben. Dass es jemanden gibt, der dafür bezahlt wird, klare Positionen zu beziehen, Veränderungen zu fordern, Leute austauscht. Dem man die Schuld geben kann, wenn Konzepte nicht funktionieren. Es ist besser, das Arschloch kommt von draußen und geht nach ein paar Monaten wieder. Wir sind die Sündenböcke, die für jahrelange Vetternwirtschaft, mieses Management und schlechte Personalpolitik die Quittung ausstellen müssen. Wir bekommen viel Geld dafür. Was ich damals nicht sagte, war, dass auch wir eigene Rechtfertigungsstrategien entwickelt haben. Wenn etwas nicht funktioniert, liegt es nicht am Konzept, sondern an der Umsetzung. Wie beim Kommunismus. Wie beim zweiten Weltkrieg. Oder so. Vielleicht habe ich mich geirrt. Es ist unmoralisch, der letzte Scheiß. [read on]

Über Michi wie über Mick weiß ich eigentlich nichts. Ich treffe sie morgens nach dem Frühstück in irgendeinem Hotel (sie frühstücken nie), wir fahren in eine dieser austauschbaren, sterbenden Städte, ziehen unser Programm durch, trinken manchmal in einem anderen Hotel noch ein paar Flaschen leer, lachen über die Arbeit, gehen schlafen. Natürlich gäbe es Themen. Filme. Musik. Doch es würde darauf hinauslaufen, dass ich schweigend Micks Referaten und Michis absurden Kommentaren lauschen würde. Ich habe solchen Nichtgesprächen nichts hinzuzufügen, bin gleichzeitig fasziniert von so viel Detailwissen und gelangweilt von so wenig Interesse, den Gesprächspartner am Gespräch teilhaben zu lassen. Michi saß draußen unter dem überdachten Teil der Terrasse. Er hatte sich irgendwo Zigaretten besorgt, es war das erste Mal, dass ich ihn rauchen sah. Er kauerte auf einem alten, irgendwann einmal weißen Gartenstuhl auf einem durchgesessenen blauen Polster, hatte die Beine angezogen, die Füße auf die Sitzfläche gestellt und sich eine Decke darüber gezerrt. Er starrte in die regennasse Siedlung hinter der Vertretung, summte dabei und inhalierte tief den Rauch seiner Zigarette. „Wusste ich gar nicht“, sagte ich, als ich neben ihn trat und deutete auf die Zichte. „Altlasten. Hab ich gestern Abend reaktiviert.“ „Wär’ mir einfach zu teuer.“ „Mir auch. Gibt aber im Salon `ne riesige Holzschachtel für alle. So called „Fluppi Box“. „Guck, sistewoll,“ sagte ich. „Hm?“ „Is mir grade eingefallen. Hat meine Oma früher immer gesagt. Guck, sistewoll. Schau mal einer an. Nikolai sagte mir eben, dass unsere Tour bis auf weiteres auf Eis liegt.“ „Ja, hat er uns auch schon erzählt.“ Es regnete wieder. Zwei Meter vor mir fielen dicke Tropfen auf den mit groben Steinplatten gepflasterten Terrassenboden. Ich ging ein paar Schritte nach vorne ans Geländer. Die Tropfen fielen mir auf den Kopf, ins Gesicht, in den Kragen, das Hemd, die Hose, Schuhe. „Wir haben gestern was Interessantes gefunden“. Michi war aufgestanden, in seine Schuhe geschlüpft und neben mich getreten. „Guck mal." In der Hand hatte er ein kleines Gerät aus grauem Plastik. „ Oh, so was kenne ich“, sagte ich. „Jahrelang selbst benutzt so was. Ein alter Gameboy Advance. Pocket-Spielkonsole.“ „Ja, ich weiß. Hatte früher auch einen. Aber schau mal genauer hin, bitte. Hier, der Slot für die Speicherdisks. Er ist geschmolzen. Als hätte jemand einen Bunsenbrenner drangehalten.“ „ Ja, kann sein. Wo hast du das her?“ „Oben im Salon gefunden, als wir gestern Abend ins Bett gegangen sind. Lagen zwei unter einem Tisch.“ „Und wo ist der andere?“ fragte ich. „Hat Mick. Wollte ein bisschen damit spielen.“ „Dann ist seiner nicht kaputt?“ „Wieso kaputt? Nein. Dieser hier auch nicht. Es steckt ein Spiel drin. Man kann es nur nicht mehr herausholen. Hier und bei Mick auch“. „Habt ihr mal gefragt, wer es verloren hat?“ „Nee. Ist doch egal. Später.“ „Na dann spielt man schön. Was ist es denn?“ „Ein Name wird nicht eingeblendet, aber es ist wohl eine Art Adventure. Es spielt in einer Phantasiewelt namens Glogmonien.“ „Nie gehört. Wird wohl ziemlich alt sein. Ist es gut?“ „Weiß nicht. Ich komm nicht über das Intro hinaus. Man braucht einen Eingangscode.“ „ Der nirgends steht…“ „Nein, aber halb so wild. Mick ist dran. Er hat’s an sein Notebook angeschlossen und versucht es zu cracken.“ Der Regen wurde immer stärker. Inzwischen waren wir pitschnass. „Ich geh mal rein, was Trockenes überziehen.“

Zurück in der Eingangshalle sah ich Frau Pölker, die wie tags zuvor wie angewurzelt hinter der Theke stand. Von oben aus dem ersten Stock kam mir Mick entgegen. Er nahm zwei oder drei Stufen der Treppe auf einmal. Als er mich am Fuß der Treppe sah, hielt er auf dem letzten Absatz an und winkte mich zu sich hoch. Er war aufgeregt, hatte einige Schweißperlen auf der Stirn. „Hey Alb, glaubst nicht, was ich eben gesehen hab.“ „Hm.“ „Ich hab eben so aus dem Fenster geschaut, da fährt unten ein Auto vor. Dicke weiße Limousine. Und was denkst du, wer aussteigt?“ „Etwart Daggeldoyn?“ Mick war enttäuscht. „Scheiße, du hast ihn auch schon gesehen.“ „Nee, aber von ihm gehört.“ „Okay, aber wusstest du auch, dass der Typ Main-Charakter in einem Konsolen-Adventure ist?“ „Hat du’s geknackt? Ich meine Glogmonien? Michi sagte, du wolltest den Zugangscode hacken.“ „Zumindest bin ich ein Menu weiter gekommen. Bis zur Charakter-Wahl. Und, Alb, du würdest dich wundern, wen man alles wiedertrifft. Lauter bekannte Gesichter.“

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Was machen sie eigentlich beruflich so, Herr A.?

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so sachen halt ;)

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